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Collage Buchcover "Himmel und Erde" | Copyright: AT-Verlag

Der Kritiker kocht

„In dem Moment, in dem man isst, sollte man sich auf das Essen konzentrieren. Und also schweigen.“ Es ist das Diktum Jürgen Dollases, welches einen Außenstehenden verblüfft. Unverkennbar ist die Referenz an einen anderen großen Meister der Zunge, an Michel Serres. Für beide ist die Zunge das Organ, das schweigend schmecken oder sprechend reden kann. Anregung erfährt sie im Wechsel dieser beiden Sphären, Betäubung dadurch, dass diese vermischt werden.

Jürgen Dollase schwebt in der Balance zwischen „Himmel und Erde“

Als der Philosoph und große gastrosophische Kopf Michel Serres mit Freunden einen unglaublichen Wein genießen will, einen Chateau d´Yquem 1947, beschreibt er deren besondere Eignung wie folgt: „Meine Freunde besaßen die Kunst der Zunge, sie konnten schweigen.“ Für Serres wie für Jürgen Dollase steht fest, dass sich die Zunge mit Geschmack hingeben muss, wenn sie schmecken will. Und erst später kann sie die Eindrücke in Worte - die im besten Falle eine Analyse oder gar eine Synthese des Geschmacksakkords angeben - zu fassen.

Um so mehr zeigt Jürgen Dollase Mut, wenn er als Kritiker seinen Lesern – den von ihm beständig kritisierten Köche und seinem Lesepublikum, also mithin den an der Gourmandise interessierten Menschen, darunter zahlreiche ambitionierte Hobbyköche – mehr als nur einen Blick in seine eigenen Kochtöpfe gewährt. Dabei zeigt schon der strukturierte Aufbau des Buches das es hier nicht um eine Spielerei, nicht um kritische Seitenhiebe, nicht um eine eitle Selbstdarstellung, sondern um Grundsätzliches in Sachen der Kochzusammenhänge geht.

Der Koch-Kritiker

Im Unterschied zu anderen Künsten kann man sich dem Kochen gegenüber nicht wirklich verschließen. Jeder von uns isst und hat eine mehr oder weniger dezidierte Meinung zu seinen persönlichen Vorlieben. Hier muss man behutsam zu Werke gehen, denn beim Essen sind wir normalerweise vor allem eines: sehr konservativ. Wir übernehmen die Geschmacksmuster unserer Kindheit, die Gerüche, die Zubereitungsarten – falls überhaupt. Auf diese Weise haben sich die traditionell festzustellenden Kochstile entwickelt. Um hier nur einige plakative Beispiele zu geben: Soja als Grundlage in Japan. Soja und Ingwer in Indonesien. Soja und Kokos in Thailand. Tomaten in den mediterranen Ländern etc. Seit Mitte des letzten Jahrhunderts scheinen sich diese Bilder aufzulösen, zu modifizieren oder zu internationalisieren.

Dies geschieht vor allem durch einen Prozess, der uns vor Kochsendungen sitzen lässt, während wir nebenher irgendetwas essen, das wir in der Regel nicht gekocht sondern im besten Falle aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzt und erwärmt haben. Das Koch-Paradox: Die Zahl der Kochshows nimmt zu, wir vermissen es anscheinend, anderen Leuten beim Kochen zuzusehen. Gleichzeitig steigt unser Bedürfnis, uns mit Essen auseinander zu setzen, uns zu informieren. Aber im Unterschied zu der vergangenen Generation verbringen wir im Schnitt deutlich weniger Zeit damit uns Mahlzeiten selbst zuzubereiten. Verblüffend, zumindest wenn man bedenkt, dass der Trend zum gemeinsamen Kochen ungebrochen scheint. Zumindest an Wochenenden unter Freunden. In der Theorie.

Hier kann es hilfreich sein, sich mit der Spitzengastronomie auseinanderzusetzen. Zum einen, da hier Kochen eben voll und ganz als Kunst am Genuss praktiziert wird. Zum anderen, da es sich hier um Grundlagenforschung handelt. Denn jede Idee, die wir später in anderen Restaurants, Bistros oder im Tiefkühlregal als Produkt der Nahrungsmittelindustrie wieder finden, stammt aus der Spitzengastronomie. Sie beeinflusst unser tägliches Leben also wesentlich mehr, als wir es uns denken. Begreift man Kochen also nicht nur als notweniges Übel zur Nahrungsaufnahme, sondern als Kunst aus vorhandenen Materialien ein möglichst vielschichtiges Genusserlebnis zu gestalten, wird klar, dass es zur Beurteilung des Kochkunsterlebnisses nicht nur einen Tester geben muss, sondern auch einen Kritiker.

Vielleicht aber zunächst ein Einschub an dieser Stelle: Muss ein Restaurant- und mithin Kochkritiker selber kochen können? Vor einigen Jahren gab der Herausgeber eines berühmten Restaurantführers zu Protokoll, dass ein Tester nicht verstehen müsse zu kochen. Ein Ballettkritiker müsse ja auch nicht Ballett tanzen. Das mag für einen Restauranttester, der einfach nur Empfehlungen – wobei man hier stets fragen sollte auf welcher Grundlage diese geschehen und welche Art von Zubereitung favorisiert wird, mithin welche Systematik hinter den Empfehlungen stehen, wenn sie nicht lediglich persönliche Vorlieben bedeuten – abgibt, angehen, nicht aber für einen Gourmetkritiker. Denn, so legt Dollase klar und schlüssig vor, der Kritiker sollte nicht nur die grundlegenden Techniken des Kochens beherrschen, sondern auch danach streben, so gut wie möglich selbst zu kochen und sich ein breites Wissen über die Produkte, ihre Qualitäten und Zubereitungsmöglichkeiten aneignen. Mittels dieser Grundlage sollte der Kritiker stets selbst strukturiert nach Lösungen für Zubereitungsprobleme suchen. Das vorliegende Buch erklärt nicht nur anschaulich, sondern seinerseits klar strukturiert warum.

Zettels Traum

Zunächst nimmt der Autor den Leser bei der Hand und erklärt ihm die grundlegenden Kenntnisse der Spitzengastronomie, die neuen Produkte, die hier schon routinierte Anwendung finden, teilweise lange bevor sie in den Handel gelangen. Dazu sieht man auf dem Bild einen Zettelkasten aus den 1990er Jahren, in welchem Dollase Fakten über Produkte, klassische und innovative Zubereitungsarten sowie Rezepte berühmter Köche sammelte. Man kann sich sehr gut vorstellen, wie dieses über ein Vierteljahrhundert gesammelte Wissen nun gebündelt Einzug in dieses Buch hält. Sozusagen der heimliche Traum eines jeden Menschen, der einen Zettelkasten zu einem bestimmten Gebiet anlegt, dieses Zutaten eines Tages zu einer großen Kreation zu bringen. Doch dies ist erst die Einführung, die uns vor allem dazu ermuntert, an unserem eigenen Geschmack zu arbeiten und ihn mit Wissen rund um die Dinge zu füttern, die wir uns einverleiben. Wichtig jedoch ist, dass man über das Kochen nur schreiben sollte – wenn man sich auch kochend Gedanken über das Geschriebene gemacht hat. Kochtopf und Schreibmaschine, bzw. Computer beeinflussen und bereichern sich in diesem Universum wechselseitig.

Deklination des Wirsings

Nach diesen kleinen Appetithappen beginnt das Menü mit einem ganz alltäglichen Produkt, um für den Leser eine höchstmögliche Transparenz zu liefern: Wirsing. Was kann man mit diesem Gemüse machen? Vor allem aber: wie kann man auch die Teile des Gemüses kulinarisch verwerten, die man bisher achtlos entsorgte? Schon wird die Theorie praktisch und die Praxis verweist auf Reflexion, will man nicht im Stadium des Redundanzkochers verweilen.

Hier zeigt der Autor, wie das regelmäßige Essen in Sternerestaurants Anregungen zu eigenen Kochexperimenten gibt. Zu Beginn des Kapitels nennt er nicht nur besternte Köche wie Andree Köthe, Yves Oellich, Alain Passard oder Kobe Desramault, die ausgezeichnet mit Gemüsen arbeiten, sondern mit Stefan Wiesner und René Redzepi auch ausgewiesene Experten einer Nova Regio Küche. Schon das Antippen dieser Referenzen zeigt, dass man Kochen nicht in einem rein klassischen Rahmen begreifen sollte, sondern als eine umfassende Herausforderung, um zum Beispiel einem Wirsing neue Geschmackskomponenten, Texturen und Aromen zu entlocken. Warum nicht, möchte man denken, schließlich ist der Wirsing lange genug gewickelt und bis zur Vernichtung farblos gekocht worden. Viele von uns verfolgt noch der Kohlgeruch aus den Küchen der Kindheit.

Wenn man dann nachvollzieht, wie sich das Aroma eines Wirsingeises langsam im Mund zu erkennen gibt, wenn das Eis sich der Körpertemperatur annähert, findet man die Idee aus Wirsing ein Eis zu machen nicht mehr per se absurd. Ergänzt man das Eis mit einem gegarten Wirsingstrunk, so kann man die Aromatik intensivieren und zeitlich verlängern. Denkt man dazu darüber nach, hierzu noch einen Schaum von roh passiertem Wirsingsaft zu reichen ..., bekommt man langsam eine Idee, welche bisher unbeachteten Möglichkeiten in diesem Gemüse – stellvertretend für andere Produkte der Region – stecken. Im Buch wird auf ähnliche Weise – und mit sehr überraschenden Ergebnissen mit Rosenkohl und Kohlrabi, aber auch mit einem anderen bodenständigen Produkt, der Bratwurst experimentiert, wobei die kulinarischen Überlegungen durch die praktischen Umsetzungen direkt anregend wirken.

Das Dollase-Prinzip

Wie bei den genannten Beispielen geht es Dollase darum, den Leser nicht nur für die Kochkunst zu begeistern, sondern für die Möglichkeiten der Küche, indem man selbst den Versuch unternimmt, tradierte Kochbilder aufzubrechen. Es geht nicht darum, mit möglichst teuren Produkten in der Küche zu glänzen, sondern, ganz im Sinne der Nova Regio Küche um die Frage: Was kann ich aus den Produkten meiner Region kochen? So schärft sich der Blick für die – teilweise sicherlich noch unbekannten – regionalen Produkte und die Zubereitungsarten.

Wie wäre es, wenn man den Strunk des Wirsings in kleine Würfel schneidet und anröstet, um so den Akkord von Röstaromen mit anderen Varianten des Gemüses zu nutzen? Doch das Buch bleibt nicht an diesem Beispiel stehen. Wie kann man simple Saucen kreieren, wie die Flamme eines offenen Feuers sinnvoll zum Garen eines ganzen Huhnes nutzen? All dies immer nur Fingerzeige, die kulinarische Möglichkeitsräume beleuchten. Eine kaum spürbare didaktische Meisterleistung, die hier in sachlichem Ton vollzogen wird: Die Lektüre ist nicht nur anregend, sie führt unwillkürlich zu eigenen assoziativen Gedankengängen. Welches Potential liegt wohl in Sellerieknollen, welches in roter Beete verborgen?

Gewürzt werden diese Überlegungen mit Ausführungen gegen das prinzipielle Salzen. Man sollte in der heimischen Küche den Produkten zunächst zu ihrem Eigengeschmack verhelfen. Viel zu sehr haben wir uns daran gewöhnt, alles zu salzen, oder mit anderen Gewürzen zu versehen und erliegen dabei sehr oft einem einheitlichen Geschmacksbild. Bereitet man beispielsweise Kohlrabi mit wenig Wasser zu, ohne sie zu salzen, ergibt sich ein vollständig anderes Geschmacksbild, als wenn man das Gemüse salzt. Der Eigengeschmack kommt stärker zur Geltung, ganz so, als würde das Salz, welches ja eigentlich ein Geschmacksträger sein soll, hier etwas verdecken und den Eigengeschmack des Gemüses stumpf machen. Es sind diese kleinen Fingerzeige, die nicht nur die Lektüre spannend machen, sondern zum direkten Experiment in der Küche einladen, um die Sinne neu zu schärfen. Dabei geht es nicht um ein Verbot des Würzens, sondern um einen grundlegend anderen Umgang mit Gewürzen. Man soll sie nicht automatisch verwenden, sondern erst nachdem man den Eigengeschmack der Produkte herausgearbeitet hat, mittels Würzung einen gewünschten Effekt bewirken.

Bilder

Ein Wort zu den Bildern sollte an dieser Stelle noch angemerkt werden. Der Autor gewährt dem Leser einen Einblick in seine Küche, lädt bildlich gesprochen an seinen Herd. Das funktioniert ausgezeichnet, sicherlich auch, da der Fotograf Thomas Ruhl ein alter Freund des Autors ist. Hier ist man unter Freunden. Dabei geht es nicht um eine Selbstdarstellung als vielmehr – form follows function – um die Unterstützung des strukturellen Konzepts. In ihrer ruhigen Art unterstützen diese Bilder die Rezeptbilder, der Leser kann sich besser vorstellen, wie diese Gerichte zubereitet worden sind, da der Blick nicht nur auf dem Teller verharrt.

Der Blick des Kritikers richtet sich aufs Ganze

Betrachtet man das von Dollase nach allen Kriterien der Kochkunst ausgebreitete Kapitel, so wird einem klar, dass man über Geschmack sehr wohl diskutieren kann. Vorausgesetzt, die möglichen Geschmacksbilder werden wie hier beschrieben analytisch klar in Sprache übersetzt. So kann man den Bereich des kulinarischen Schmeckens in Geschmacksbilder übersetzen und auf diese Weise zum Sprechen bringen. Dies ist ganz beiläufig erwähnt Lebensaufgabe, Antrieb und Verdienst des Autors.

Dass wir über Zubereitungsarten von Produkten selbst nachdenken sollen, ist mehr als sinnvoll: unsere Kochmuster sind sehr konservativ. So haben sich die verschiedenen Geschmacksbilder, die man Ländern oder Regionen zuordnen kann, über Generationen entwickelt. Zumeist haben wir lediglich gelernt, diese Geschmacksbilder zu kopieren, oder uns andere (Pastasaucen) insoweit angeeignet, dass wir diese stets wieder kopieren können. Die neuen Entwicklungen in der Spitzengastronomie, die durch die molekulare Entwicklung klassische Geschmacksbilder und Zubereitungsarten in Frage gestellt hat und durch die Nova Regio Küche nun nach neuen Kochmöglichkeiten Ausschau hält, versetzt uns auch am eigenen Herd in die Lage, neu über die Verwendung von Produkten und über das Kochen nachzudenken und das heißt stets am Herd neue Muster auszutüfteln.

Kurzum, das Buch ist für jeden interessant, der am Kochen interessiert ist. Es ist sowohl ein Grundlagenbuch für den Laien, als auch ein nützliches Werk für den Profi, der hier auch die ein oder andere grundlegende Anregung finden wird. Aber auch nach Jahrzehnten als Kochkritiker hat Dollase hier kein Fazit seiner Arbeiten vorgelegt sondern eher grundlegend sein eigenes Terrain abgesteckt. Man darf auf die Fortsetzung dieser ambitionierten Arbeit gespannt sein. Denn so wie sich das Kochen durch immer neue Produkte, Zubereitungsarten und Darreichungsformen weiter entwickelt, wird es auch stets der Reflexion dieser Arbeiten brauchen. Die Kochkunst braucht gut ausgebildete Kritiker, dieses Buch ist eine Einladung.

Für Sie gelesen

Jürgen Dollase: Himmel und Erde. In der Küche eines Restaurantkritikers. Aarau 2014, 304 Seiten geb., 39,90€

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