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Basilius Kathedrale in Moskau | © Vera Bischitzky

Nikolai Gogol

Am Ende blieb das Lorbeerblatt. Aber nicht als Suppenwürze war es gedacht. Und auch von keinem einzelnen Exemplar soll hier die Rede sein, sondern von einem feierlichen Lorbeerkranz, den man dem im Februar 1852 knapp dreiundvierzigjährig in Moskau gestorbenen russischen Schriftsteller Nikolai Gogol im Sarg andächtig aufs Haupt setzte.

Wie Nikolai Gogol die Makkaroni nach Russland brachte (Teil 1)

 

Hätte das Schicksal
Gogol nicht zu einem
großen Dichter bestimmt,
er wäre unweigerlich
ein Spitzenkoch geworden!
(Sergej Aksakow)

 Bevor der Sarg verschlossen wurde, nahm man ihm den Kranz allerdings wieder weg und sämtliche Lorbeerblätter wurden verkauft, was viel Geld einbrachte. Jeder wollte sich ein solches Souvenir verschaffen, wie ein Zeitgenosse berichtete. Mutet uns diese ganze Lorbeerblattverteilung heute auch etwas befremdlich, wenn auch typisch gogolesk an: Nikolai Gogol starb in Armut, und der Erlös aus dem Verkauf war vermutlich Gogols Mutter zugedacht. Der Autor des grandiosen Sittengemäldes „Tote Seelen“, des genialen „Mantel“, des „Revisor“ und weiterer berühmter Novellen und satirischer Theaterstücke, der nie eine eigene Wohnung besessen hat und meist auf die Großzügigkeit und Gastfreundschaft seines großen Bekannten- und Bewundererkreises angewiesen war, hinterließ an materiellen Werten nichts als ein paar abgetragene Kleidungsstücke, 243 Bücher und eine goldenen Taschenuhr.

Gedachte Gelage gelebte Nahrungsverweigerung

Doch wie ist es zu erklären, dass er am Ende seines Lebens jegliche Nahrung verweigerte, wo wir doch seine überbordenden Schilderungen von Gelagen aller Art kennen und wissen, wie üppig und gern er selber aß. Dieses Rätsel lässt sich nicht mehr aufklären. Und es wäre wohl auch nicht in Gogols Sinne, in allerlei Spekulationen zu verfallen - er hatte sein Innenleben ja bewusst vor zudringlichen Blicken geschützt. Schließlich trug er schon zu Schulzeiten den Spitznamen „der geheimnisvolle Zwerg“ ...


Das Extremfasten stand zumindest ursprünglich im Zusammenhang mit einer radikalen Form der Kasteiung in der  vorösterlichen Fastenzeit und einer exzessiven Hinwendung zur Religion in seinen letzten Lebensjahren, ging dann aber unmerklich in die Weigerung über, weiterzuleben. Es scheint so, als hätte er auf einen Aus-Schalter gedrückt. Zuvor hatte er sämtliche Papiere verbrannt, darunter auch die bereits druckfertige Fortsetzung seines Hauptwerks „Tote Seelen“, das auf drei Bände angelegt war. Die ratlosen Ärzte, die keine Krankheitssymptome feststellen konnten, wandten sämtliche ihnen damals zur Verfügung stehenden (für den Patienten in den meisten Fällen aber überaus brutalen) Mittel an – man versuchte es mit Magnetisieren, mit Blutegeln, kalten Wassergüssen, Klistieren, Senfpflastern, goss ihm Spiritus auf den Kopf, verabreichte Pflaster mit dem Gift der spanischen Fliege, flößte ihm Kalomel ein, das damals als Allheilmittel galt, kleidete ihn aus, drehte ihn ungeniert hin und her, riss und hantierte an ihm herum ... Gogol reagierte auf all diese Torturen mit großer Abwehr, widersetzte sich, schrie, sagte, es sei alles sinnlos, man solle ihn in Ruhe lassen. Doch niemand respektierte seinen Wunsch. Zu allem Überfluss war das Vorzimmer mit Bewunderern überfüllt, die schweigend dastanden und ihn aus der Ferne beobachteten. So starb der von so vielen geschätzte, geachtete und von einer großen Fangemeinde geradezu kultisch Verehrte, der bis heute zu den größten russischen Schriftstellern, ja den größten Autoren der Weltliteratur zählt, unter sehr erbärmlichen Umständen.

Tote Seelen erzeugen gegenwärtigen Appetit

Sein Werk aber ist unsterblich. Wer sich jetzt fragen sollte, ob uns heute, im 21. Jahrhundert, diese skurrilen Geschichten und Gestalten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigentlich noch interessieren, der kann nur eine Antwort bekommen: Ja, ja und nochmals ja. Zieht man nämlich das Zeitkolorit ab, stellt sich statt der russischen Provinzstadt N.N. eine auf Hochglanz polierte deutsche Kleinstadt vor, denkt sich statt der Kaleschen und Equipagen schnittige Sportwagen und Privatjets, statt des legendären preiselbeerfarbenen Tschitschikowschen Fracks einen Brioni-Anzug oder ersetzt die prachtvollen Roben der Damen, all die  Musseline, Atlasse und Batiste durch Versace oder Lagerfeld, denkt sich statt der Tula-Samoware durchgestylte Bugatti-Espressomaschinen und statt der Piroggen, Plinsen und Hammelkeulen Sushi, Eisbeinpraline mit Flußkrebs oder Languste im Luftschaum, so ist das Porträt der Gegenwart perfekt. Und auch die ausgekochte Idee, sich durch den Kauf von nicht mehr existenten Leibeigenen Prestige und Einfluß zu verschaffen, ja, durch ihre Verpfändung gar Kredite zu erschwindeln, erinnert nur allzu sehr an den gerade aufgeflogenen Handel mit „Giftpapieren“ und anderen Risikogeldanlagen. Fast jede Situation, die Gogol in den „Toten Seelen“ beschreibt, ist mühelos auf unsere Zeit übertragbar. Und das Panoptikum der Protagonisten mit all ihren Schwächen sowieso. Tote Seelen bevölkern auch unsere Gefilde … Und das nicht zu knapp!

Legendär sind die ausufernden Beschreibungen der Tafelrunden in den „Toten Seelen“, wo sich die Tische vor Platten mit Hausen, Stör, Lachs, Kaviar und Sternhausen nur so biegen. Piroggen mit ganz unwahrscheinlichen Füllungen werden da serviert, für die schon mal die Knorpel und Backen eines 147 Kilogramm schweren Störs verarbeitet wurden. Nehmen wir zum Beispiel nur die „wahrhaft homerische Episode aus dem zweiten Teile der ‚Toten Seelen', von der man nicht glauben sollte, dass sie aus einer Zeit stammt, da Gogol schon seelisch schwerkrank war“, wie Thomas Mann in der „Russischen Anthologie“ notierte. Wer je die Anweisungen des Vielfraßes Petuch an seinen Koch gelesen hat, der unter dem Vorwand eines zeitigen Frühstücks für seine Gäste schmatzend und schnaufend ein opulentes Mittagessen bestellte, der wird sich Gogols Meinung anschließen: „Da hätte sogar ein Toter Appetit bekommen.“

„’Die Fischpastete mach mir mit vier Ecken … In die eine Ecke tu mir die Backen und die gedörrten Sehnen vom Stör, in die andere Buchweizengrütze und Pilzlein mit Zwiebelchen und süßen Milchner und noch Hirn, und dann noch, na, was dir eben so einfällt, du weißt schon, was Feines eben. Und dass du sie von der einen Seite schön anbräunst, verstehst du, von der anderen aber nicht so sehr. Und back sie unten richtig durch, damit sie mürbe wird, dass sie ganz, also, du weißt schon – nicht, dass sie zerfällt, aber dass sie im Munde zergeht, wie eine Schneeflocke … Und den Stör garniere mir sternförmig mit roten Beeten und mit Stinten und mit Milchlingen und dann tu noch Rübchen dazu und Karotten und Bohnen und was du sonst noch so hast, du weißt schon, damit wir Beilagen haben, schön viele Beilagen. Und in den Schweinemagen leg ein Stück Eis, damit er schön aufquillt.’ Noch viele Gerichte gab Petuch in Auftrag. Immer wieder hieß es: ‚Und brate, und backe, und dass alles schön schmort!’ […] Am nächsten Tag aßen die Gäste dermaßen viel, dass Platonow nicht mehr aufs Pferd kam. Der Hengst wurde mit Petuchs Stalljungen losgeschickt. Sie setzten sich in die Kutsche. Der Hund mit der riesigen Schnauze lief träge hinter der Kutsche her: er hatte sich auch überfressen.“

Den zweiten Teil lesen Sie auf Tartuffel in der kommenden Woche.


Für Sie gelesen

Nikolai Gogol: Tote Seelen. Neu übersetzt und kommentiert von Vera Bischitzky. Mit 22 Radierungen von Marc Chagall. Düsseldorf 2009

Bei Amazon zu erwerben

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Phänomene: Gogol (Teil 2)

Bücher: Oblomow
Charaktere: Schreiben und Kochen
Zutaten: Quelle

Autorin: Vera Bischitzky

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