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Hervorstechendes Merkmal ihr herbsüßer Geschmack | © Carrot and rutabaga“ von Tiia Monto - Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons

Steckruebe

Das Chamäleon unter den Gemüsen

Wenn kollektive Erinnerung mitschmeckt

Die meisten werden von ihr gehört, die wenigsten sie probiert haben: die Steckrübe. In der kollektiven Vorstellung ist sie als Futter- und Ersatznahrungsmittel stigmatisiert. Woran das liegt und warum es sich lohnt, das Trauma abzulegen.

 

Vielerorts führt sie immer noch ein Leben im kulinarisch Verborgenen. Denn der berüchtigte „Steckrübenwinter“ des Jahres 1916/17 haftet ihr ebenso in der kollektiven Erinnerung an, wie der Hungerwinter 1946/47. Zudem sieht sich die Steckrübe stets als Schweinefutter diskriminiert, verwunderlich, ist doch das Schwein – wie der Mensch – ein Omnivor, ein Allesfresser, der sich gleich uns nicht bloß auf Steckrüben beschränkt. Stärker aber als das Futtermittel für Schweine wiegt sicherlich der administrative Erlass aus dem Ersten Weltkrieg.

Er ordnete der deutschen Bevölkerung nahezu an, die Steckrüben zu essen, da es eine missratene Kartoffelernte zu verzeichnen gab. Folgt man Kochratgebern der Zeit, lassen sich aus der Steckrübe Suppe, Auflauf, Frikadelle, Koteletts, Klöße, Mus und sogar Pudding und Marmelade fabrizieren. Hier aber zeigte sich, dass noch nicht einmal der kaisertreue und anfangs so kriegsbegeisterte Untertan sich seinen Speisezettel vorschreiben lassen will. Noch nicht einmal in Kriegszeiten.

Einsparungen hinzunehmen ist die eine Sache, Vorschriften daraus abzuleiten, was auf den Teller kommt, aber eine ganz andere. Trotz des Hungers und trotz des Versuches die Steckrübe durch phantastische Namen wie „Ostpreußische Ananas“ anzupreisen, wurde die Steckrüben nicht an den Mann, bzw. die Frau gebracht. Vielleicht entstand so eine noch tiefere Abwehr gegen die Steckrübe, die man sich einfach nicht auf den Teller verordnen lassen wollte. Krieg hin Kaiser her, die Steckrübe kam nicht auf den Teller, ganz ohne Hungersnot sollte dies für heutige Politiker ein Rübenfingerzeig sein.

Doch die Hungerzeit des Kohlrübenwinters lässt vielen – insbesondere der Stadtbevölkerung – keine andere Wahl. Wie sehr diese Mangelernährung, die mit der Steckrübe verbunden ist, zum kollektiven Trauma taugt, verdeutlicht folgender Tagebucheintrag des Dresdners Romanistik-Professors Victor Klemperer aus jenen Tagen:

„Bis hierhin hatte ich die zahlreichen Eßnotizen meines Tagebuchs im wesentlichen mit dem darüberstehen des Kulturhistorikers niedergeschrieben. Ich hatte mir oft auch für meinen Teil eine bessere Kost gewünscht [...] aber ich hatte doch noch nie wirklich gehungert,  ich war noch nie von Eßvorstellungen besessen gewesen. Und jetzt drängen und steigern sich in meinem Tagebuch von Woche zu Woche die Klagen über mangelnde Sättigung, über hungriges Schlafengehen und hungriges Aufwachen, über schwere Müdigkeit, über Erniedrigung der Phantasie: ... “.

Wiederentdeckung empfohlen

In vielen norddeutschen Gebieten gehört der Steckrübeneintopf traditionell zu einem ländlichen Essen wie die Bratkartoffeln, doch im Unterschied zu diesen werden Steckrüben eher selten auf den Speisekarten von Imbissen oder Restaurants verzeichnet.

Vielleicht ist sie ja ihrer Vielfältigkeit zum Opfer gefallen. Denn im Unterschied zu den Speiserüben zeichnet sich die Steckrübe nicht nur in Größe, Farbe und Form, sondern vor allem durch ein nahezu unbekanntes Spezifikum aus: Sie kann hervorragend die Charakteristika anderer Zutaten annehmen. So kann man sie zusammen mit Äpfeln zu Apfelmus verarbeiten, da sie problemlos den Geschmack der verwendeten Äpfel annimmt. In Eintöpfen unterstreicht sie das Spiel der durch andere Gemüse oder geräuchertes Fleisch einfließenden Aromen. Doch weiß sie auch als Einzelspieler, etwa als Gemüse oder geraspelt als Salat zu überzeugen.

Auch wenn ihr Geruch vordergründig an Kohl erinnern mag, so ist ihr hervorstechendes Merkmal ihr herbsüßer Geschmack, nicht umsonst wird sie in einigen Gegenden nicht nur als Kohlrübe sondern als Butterrübe bezeichnet. Obgleich reich an Traubenzucker und Mineralstoffen, ist die Steckrübe relativ arm an Kalorien. Man sollte sie – nicht erst im Zeichen der historischen Betrachtung des Ersten Weltkriegs – wiederentdecken.

Gerade im Hinblick auf regionale und saisonale Küche sowie mit Verweis auf die wiederbelebte vegetarische Küche bietet sich die Steckrübe als ein Gemüse an, dessen vielfältige Verwendung nun neu erschlossen werden kann. Traumata wird man nämlich nur los, wenn man das verursachende Ereignis noch einmal durchlebt.

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