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Abschluss der kulinarischen Trilogie: Himmel und Erde, Kopf und Küche, Pur und Präzise

Trilogie des Genusses

Jetzt liegt er vor „Pur, präzise und sinnlich“, der anschließende Band der im AT-Verlag erscheinenden kulinarischen Reflexionen unseres gastrosophischen Kopfes Jürgen Dollase. Nach Himmel und Erde, sowie Kopf und Küche, wird der Restaurantkritiker und kulinarische Aufklärer grundsätzlicher und politischer als er es bisher schon war.

 

Jürgen Dollase schickt die volle Drohung: Pur, präzise, sinnlich

Es ist ein oft zitiertes Dilemma: Der Einzelne kann tun was er will, verändern kann er alleine nichts. Es ist zugleich das Diktum oder das Jammern derer, die nichts verändern wollen. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt Hygiene wenig, weder die körperliche Hygiene stand hoch im Kurs, noch die Hygiene in Krankenhäusern oder von medizinischem Gerät. In den letzten zwei Jahrhunderten haben wir im Bereich der Hygiene große Fortschritte gemacht. Das Risiko auf Grund von Infektionen zu sterben ist deutlich zurückgegangen und das menschliche Zusammensein gestaltet sich olfaktorisch um Einiges angenehmer. Louis Pasteur gilt als eine der zentralen Personen, die zur Akzeptanz von Hygienevorschriften beitrugen. Dies nicht ohne Grund, denn er war es, der durch das nach ihm benannte Verfahren, Krankheitserreger in Nahrungsmitteln beseitigen konnte. Die Aufnahme pasteurisierter Nahrungsmittel hat grundlegenden Anteil an der breiten Akzeptanz von grundlegenden Hygienevorschriften, die mittlerweile ganz selbstverständlich schon im Kleinkindalter trainiert werden. Vielleicht gibt es einen tiefer liegenden Zusammenhang zwischen Hygiene und Essen, als wir bisher dachten und vielleicht hat dies eine Menge mit dem sozialen Verhalten jedes Einzelnen zu tun. Aber greifen wir nicht vor.

Essen, verstanden als Nahrungsaufnahme ist immer subjektiv, eine Alltagserfahrung. Und zugleich ist Essen immer ein Bezug auf eine kulturelle Gemeinschaft. Schon das Stillen an der Mutterbrust verweist auf diesen Zusammenhang: hier wird mit der Muttermilch Nähe, Wärme und die Muttersprache aufgesogen. Und dies ist sicherlich ein Grund, weshalb wir uns auch im Erwachsenenalter zu gemeinsamen Essen versammeln. Auch wenn der Vorgang der Nahrungsaufnahme subjektiv verläuft ist Essen stets mehr, als eine subjektive Erfahrung, es ist gelebte Kultur. Und begreifen wir das Kochen kulturgeschichtlich, ist es die Voraussetzung für den Beginn der menschlichen Kultur. Vielleicht also liegt im Essen wesentlich mehr Veränderungspotential, als wir uns vorstellen können. 

Pur, präzise, sinnlich

Weil dieser die Trilogie abschließende Band von Jürgen Dollase – im Unterschied zu so vielen Dingen, die vom Essen sprechen – nicht subjektiv gedacht und aufgebaut ist, obwohl im Buch sehr oft vom „Ich“ die Rede ist, sei an dieser Stelle ein kleiner Einblick in das Private - wenn man so will in das subjektivste Kriterium den „Bauch des Kritikers“ - bei der Planung einer Diät, erlaubt:

„Am Frühstück (normalerweise 1 Brötchen mit Käse) habe ich nichts geändert. Zum Mittagessen aß ich zu dieser Zeit eine Schale mit Fruchtjoghurt und Haferflocken. Hier strich ich die Haferflocken. Abends die ganz normalen kleinen Portionen. Gestrichen wurde allerdings die Flasche Wein.“ Doch diese Diät, stellt Jürgen Dollase fest, ist nicht wirklich alltagstauglich, denn nach einem ausgedehnten Testwochenende ist der unter der Woche durch Verzicht erreichte Diäterfolg wieder zu einem guten Teil verloren. Diese Erkenntnis führt den Tester des eigenen Leibes zu der Überzeugung, nicht nur auf Kohlenhydrate und Alkohol verzichten zu müssen, sondern darüber hinaus die Essgewohnheiten selbst und gerade bei der Einnahme der Mahlzeiten zu verändern. Dollase verlangsamt seine Essensaufnahme und stoppt sie exakt an dem Punkt, an welchem das Hungergefühl beseitigt ist. Auf diese Weise merkt er, dass er tatsächlich viel weniger Nahrung zu sich nehmen muss, als er bisher dachte. Und genau hier kristallisiert sich der Punkt für Dollase, um über Phänomene des Essens neu nach zu denken: Wie weit ist der Einzelne Herr über seine Essgewohnheiten? Ist das Essen vielleicht schon die letzte legale Droge? Warum gibt es Koma-Esser, die wie bewusstlos einfach viel zu viel Nahrung in sich hineinstopfen und warum gibt es entsprechende Koma-Portionen in Gaststätten? Aus dem scheinbaren Solipsismus - dem gedanklichen Kreisen um das eigene selbst - erwächst so eine der Prägung des Subjekts vorgelagerte - Analyse der modernen Gesellschaft.

Ich isst ein Anderer

Der Strukturalismus sucht kulturelle Beziehungsgeflechte zu analysieren, die im Unterschied zur Nabelschau des Ichs weitgehend unbewusst ablaufen und erst das prägen, was wir selbst als unser Subjekt wahrnehmen. Das "Ich", das wir als frei und selbstbestimmt definieren, wird so als ein durch gesellschaftliche Normierung determiniertes Wesen angesehen, welches seine Freiheit nur soweit erlangen kann, als es sich über vorbewusste Mechanismen klar wird und sich - ganz im Sinne der Aufklärung - seines eigenen Verstandes bedient, um geprägte Mechanismen aufbrechen zu können. Aus dem bekannten strukturalistischen Diktum "Ich ist ein anderer" ergibt sich kulinarisch gewendet die Folgerung: "Ich isst ein anderer". Denn meist läuft das, was uns Subjekte am Leben hält in weiten Teilen vor- oder eben unbewusst ab, es sind Mechanismen, die wir so sehr verinnerlicht haben, dass wir gar nicht in die Position gelangen, sie grundlegend zu hinterfragen. Hier setzt Dollase ein und zeigt auf, was eine grundsätzliche Betrachtung und Analyse von Nahrung leisten kann. Denn die Beschäftigung mit Lebensmitteln, ihre Verarbeitung und ihr Genuss, so zeigt dieses kleine Beispiel von Diät und genormter Portionen, ist nie eine rein subjektive. Essen verändert uns. Und die angebotenen Lebensmittel und Gerichte prägen unseren Geschmack und unser Essverhalten. Insofern führt Dollase hier konsequent seine subjektiven Beschreibungen weiter, die er im ersten Band dieser Trilogie mit seinen Einkaufs- und Kochverhalten eingesetzt hatte und die dann im zweiten Band mit seiner kulinarischen Erweckung durch den Geschmack einer Auster einen Kulminationspunkt seiner Arbeit zeigten. Die Auster war für ihn das kulinarische Erweckungserlebnis. Denn der Verzehr von Austern war ihm nie nahegebracht worden und er ekelte sich vor der Vorstellung, ein lebendiges Tier in den Mund zu nehmen. Als Dollase seine – kulturell vermittelte - emotionale Abwehrreaktion gegen den Verzehr von Austern rational überwunden hatte und die Auster aß, entstanden für ihn neue Geschmackshorizonte und  - was er zu dieser Zeit noch nicht wissen konnte – ein völlig neues Betätigungsfeld. Und selbstverständlich sind wir alle kulinarisch geprägt. Wir greifen, solange wir uns nicht damit auseinandersetzen, stets zu den gleichen Lebensmitteln und sind so lange in gewisser Weise kulinarische Komaesser und essen „weil es uns schmeckt“. Sobald wir uns aber Gedanken darüber machen, was wir essen, oder was wir essen wollen, wie wir es zubereiten und portionieren wollen, wenn wir offen sind für neue Eindrücke sind, dann fangen wir an, uns unseres kulinarischen Verstandes zu bedienen. Und genau darum geht es in dieser Trilogie. Dabei ist es wichtig zu begreifen, wo wir anfangen müssen: Grundlegend. Nicht nur bei den Dingen, die wir einkaufen, sondern vor allen bei den Mechanismen, die wir für die Zubereitung von Gerichten für ganz selbstverständlich halten, so, wie die Verwendung von Salz.

Kulinarische Abrüstung gegen die Vereinheitlichung von Geschmack

Unter diesem martialisch-militärisch klingenden Begriff der kulinarischen Abrüstung, versteht Dollase die Idee, die Aromen der Lebensmittel an sich zur Geltung zu bringen. Aus Dollases Sicht haben wir uns zu sehr daran gewöhnt, alles zu würzen. Salz findet automatisch Verwendung, ähnliches gilt für Pfeffer. Man sollte zunächst auf diese allgegenwärtigen Gewürze verzichten, um den Geschmack des Essens an sich wieder zu entdecken. In einem weiteren Schritt ließe sich überlegen, wie sie der Geschmack der Lebensmittel verändert, wenn sie mit Gewürzen eine Verbindung eingehen. Und man sollte, so eine weitere Überlegung Dollases, die Komponenten auf einem Teller schon in der Küche in ihrem Zusammenspiel bedenken. Vielleicht kann eine Gemüsesorte ungewürzt gereicht werden, da eine andere Komponente schon einen relativ starken Geschmack mit sich bringt? 

Doch dies sind lediglich die Anfänge einer kulinarischen Abrüstung. Dollase verdichte seine Zahlreichen Erfahrungen zu einem Blick auf die kulinarische Welt: was sollte der Einzelne ändern? Wie können sich kulinarische Verhaltensweisen verändern? Welche Chancen bietet die Nova-Regio Küche? Es gibt Querverweise von der Restverwertung in der eigenen Küche bis zu Problemen der Spitzengastronomie. Anhand von Selbsttests von industriellen Produkten zeigt Dollase nicht nur deren Probleme auf, sondern gleichzeitig, warum man bei der Zubereitung des Essens eben nicht auf die volle Geschmacks-Dröhnung aus sein sollte, denn damit verflacht und vereinheitlicht sich das Geschmacksempfinden. Mit anderen Worten: Die volle Dröhnung führt geradewegs zu einer Koma-Situation.

Sinnlichkeit und Rezepte

Die kulinarische Abrüstung führt gleichzeitig weg vom Essen, hin zum Schmecken und damit zu kulinarischer Sinnlichkeit. Denn Essen, verstanden als mechanische Nahrungsaufnahme, gibt sich mit der Erfüllung eines verankerten Geschmacksbildes zufrieden. Das Schmecken dagegen will mehr als nur ein Geschmacksbild erkennen, es will überrascht, in Spannung gehalten und überzeugt werden. Das Schmecken verlangt Zeit und Aufmerksamkeit. Erst auf diese Weise können die sinnlichen Aspekte des Essens erfahren werden. Das Buch gibt dem Leser praktische Ratschläge, um das Spektrum der kulinarischen Sinnlichkeit zu vergrößern.

Die im Buch versammelten Rezepte sind in sechs Kategorien unterteilt: Gemüse, Milchprodukte, Brot, Fisch, Fleisch und Desserts. Den Anfang macht dabei eine pure Tomatensuppe. Was man dazu braucht? Tomaten und eventuell ein wenig Wasser. Nichts weiter, nur noch Anweisungen zur Zubereitung und Tipps zur Präsentation. Und schon ist der Leser herausgefordert. Denn die Reduzierung führt dazu, das normale Handeln bei der Zubereitung einer solchen Suppe zu hinterfragen. Hier erhält der Leser eine andere Idee und zugleich eine praktische Unterweisung, worauf sich die anderen Rezepte konzentrieren werden: Auf das Aufbrechen von kulinarischen Gewohnheiten.

Pure Schönheit und präzise Geschmackakkorde runden kulinarische Sinnlichkeit

Jürgen Dollase verwendet gerne Vokabeln aus der Musik, um Beschreibungen aus dem Bereich der Kulinarik anschaulich werden zu lassen. Ein oftmals sinnvolles Vorgehen, denn wie sollte man einen komplexen Geschmack, den die Zunge in einem Augenblick wahrnimmt, anders Beschreiben, als einen Akkord, ein Zusammenspiel verschiedener Komponenten, deren Synthese die Zunge auf einmal schmeckt, diesen aber in Worten nur analytisch zergliedert wieder geben kann, außer eben in einem Begriff aus einem anderen Zusammenhang. Zur Sinnlichkeit dieses Buches aber trägt nicht die Akustik, sondern die Optik ein wesentliches Element bei. Auch Schönheit wird mit dem Geschmack wahrgenommen, sie umkleidet diesen und geht dem Schmecken am Gaumen voraus, prägt dieses also schon vor. Das Buch ist, wie seine beiden Vorgänger, pur und präzise gestaltet, die Bilder von Thomas Ruhl setzen die Arbeit des Autors in der Küche, die vorgestellten Rezepte und einzelne Arbeitsschritte sinnlich ins Bild.

Mit dem Abschluss seiner Trilogie stellt Jürgen Dollase nicht nur zahlreiche kulinarische Forderungen auf, er bietet  Lösungsansätze. Betrachtet man die Vielseitigkeit seiner Denkrichtungen und die Komplexität mit der er das Thema der Kulinarik aufgreift, könnte man vorschnell auf den Gedanken kommen, dass hier jemand seine Lebenserfahrungen zu einem inhaltlichen Testament verdichten wollte. Doch studiert man seine Überlegungen zur Veränderung kulinarischer Verhaltensweisen, erkennt man das noch immer weithin unbestellte Feld der Kulinarik. Es geht um den Wert, den wir den Lebensmitteln, dem Essen und unserem gesellschaftlichen Wohlbefinden in Zukunft zubilligen wollen. Es geht genau darum, wie weit wir bereit sind, Essen als zentralen Kern unserer Kultur zu begreifen. Eine Gesellschaft, die sich Musikschulen und Philharmonien leistet, die Theater- und Filmförderung betreibt, sollte das Essen ebenso als Teil kultureller Bildung auffassen. Man sollte Koch-Schulen in Analogie zu Musik-Schulen definieren und in Schulen und anderen Institutionen des öffentlichen Lebens Lebensmittel nicht nur als Gegenstände der Abspeisung durch Kantinen und Mensen begreifen, sondern als Lern-, Anschauungs- und Genussobjekte. Essensaufnahme ist stets subjektiv und immer gesellschaftlich geprägt. Es geht darum, die im Buch skizzierten Zusammenhänge in den praktischen Kochalltag zu übernehmen, denn Essen ist, seine Zubereitung und die Produktion von Lebensmitteln sind nicht nur Teil unserer Kultur, sondern stets ein Politikum, es wird Zeit diesen gesamten Sektor zukunftsorientiert zu betrachten.

Im 19. Jahrhundert wurden hygienische Maßnahmen nicht nur propagiert. Sie wurden in dem Moment allgemein verinnerlicht, als mit der Pasteurisierung von Lebensmitteln ein allgemein nachzuvollziehender Erfolg dieser Maßnahmen auf dem Feld der Lebensmittel zu verzeichnen war. Jetzt geht es darum – jenseits von Pasteur – die Sinnlichkeit der Nahrung, ihren puren Geschmack und ihre präzise Zubereitung in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Insofern sollte man das flapsige wirkende Zitat von Jürgen Dollase nicht als subjektive Meinung, sondern als Hinweis auf die kulinarische Forderung des 21. Jahrhunderts verstehen: „Schlecht essen ist, wie sich nicht waschen.“

Auch beim Essen sollten wir uns mehr um uns selbst kümmern, denn das Essen ist die Verbindung des Einzelnen zur Gemeinschaft, rein strukturalistisch gedacht.

Jürgen Dollase: Pur, präzise, sinnlich. Ganzheitlicher Genuss – die Zukunft des Essens. Mit über 50 Rezepten. 280 S., geb., Fotos: Thomas Ruhl, AT Verlag Aarau und München 2017, 39,90€

 

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