Es wird Zeit, Monsieur Proust
Es ist das Drama des Kusses. Und es ist das Ereignis der in Tee getauchten Madeleine. Es ist der Wirbel der unwillkürlichen Erinnerung, der die Zeiten durcheinander bringt und der Proust rechte Hand und Haushälterin Céleste Albaret nach fünfzig Jahren des Schweigens endlich die Stimme erheben lassen wird, um über die gemeinsam mit Marcel Proust erlebte Zeit zu sprechen.
Aber der Reihe nach:
Céleste Albaret wird sich erst ein halbes Jahrhundert nach ihrer gemeinsamen Zeit mit Proust, auf Drängen des Lektors Georges Belmont dazu hinreißen lassen, ihre Erinnerungen über diese neun Jahre bis zum Tod des Autors, zu offenbaren. Das daraus entstandene Buch hat nicht nur unter Proust Enthusiasten einen nostalgischen Wert, es besticht durch seinen eigenen literarischen Reiz. Denn auch fünfzig Jahre nach Proust Tod ist es der von Proust geformte Blick auf die Dinge, der in ihren Erzählungen ebenso durchscheint, wie ihr ganz eigenes Vermögen, das Erlebte in eine Form der literarischen Arbeit zu bringen, mithin also selbst Literatur zu formen. In diesem Falle ihre Arbeit mit dem so schrulligen wie liebvollen Menschen, der von seinem Werk schier im Bett erdrückt wurde, da er hinter ihm zurückstehen wollte, um es bis in die letzten Sekunden seines Lebens zum Leben zu erwecken. Um die Dramaturgie, die Proust im Sinn hatte – bis zum letzten Atemzuge sein Leben in das des Romans zu hauen aber benötigte er einen liebenden Menschen, den er in Céleste fand und die diesen Blick auf die letzten Momente des noch im Sterben schreibenden Romanciers übermittelt.
Célestes Erinnerungen legen Zeugnis ab von einer innigen Arbeitsbeziehung: Sie war, wann immer er sie brauchte, zur Stelle. Ihr ganzes Leben drehte sich um die Bedürfnisse ihres Arbeitgebers und sie half ihm in entscheidenden Momenten bei der Verfeinerung seines Romans. Denn sie war es, die eine Idee erfand, wie er seine immer weiter ausufernden Korrekturen am Text sinnvoll einarbeiten könnte und sie war es auch, die ihn liebevoll von der Außenwelt abzuschirmen wusste, um ihm sein Arbeitspensum überhaupt erst und ganz in seinem Sinne und nach seinen Wünschen zu ermöglichen. Das Buch wurde ein solcher Erfolg, dass Percy Adlon es als Ausgangspunkt nahm, um den Stoff 1981 mit Eva Matthes in der Hauptrolle zu verfilmen.
Leben trifft Literatur
1914 tritt Céleste eher per Zufall – ihr Mann Odilon hat einen Stammkunden, der dringend eine Haushälterin sucht – ihren Dienst im Hause Proust an. Sie hat keine Ahnung von Kochen, oder Haushalt, auch weiß sie nicht, wie man mit einem Schriftsteller umzugehen hat. Und doch wird sie sehr schnell unentbehrlich für Proust – der genauso eine Person zwischen sich und der Außenwelt als Scharnier benötigt. Die folgenden Jahre wird sich Céleste voll in den Dienst des Schriftstellers stellen. Sie übernimmt seinen Tagesablauf und – da er die ganze Nacht arbeitet – wartet sie mit dem heißen Kaffee und den warmen Croissants auf ein Zeichen von ihm. Meist gegen frühen Nachmittag ist er für die Stärkung – für viele Tage die einzige die er überhaupt zu sich nimmt – bereit. Sie erträgt seine Schrullen und seine – oft ernsthaften – Asthmaanfälle. Erträgt seine Forderungen nach absoluter Ruhe, staubfreier Wäsche und bemüht sich, ihm alle Wünsche von den Augen abzulesen. Einmal stellt sie sich und damit den Lesern die rhetorische Frage, ob Proust überhaupt wusste, was ein Hausschlüssel ist. Er benötigte keinen, denn er hatte ja sie, als treue Türöffnerin zu allen Tages- und vor allen Nachtzeiten. Doch neben diesen Dingen der Alltagsgestaltung wird sie seine unentbehrliche Schreibkraft werden. Sie arrangiert Paperolles für seine überbordenden Korrekturen. Besorgt ihm die gewünschten Cahiers für Notizen und sorgt so auf ihre Weise dafür, dass das Romanwerk weiter an Gestalt gewinnt.
Rückblickend – auch nach einem halben Jahrhundert – wird sie diese Zeit als erfüllend beschreiben. Denn, das ist entscheidend, sie lernt durch Proust einen anderen Blick auf die Welt und dadurch die Verwendung anderer Worte zu ihrer Beschreibung. So, wie sie ihm den Morgenkaffee heiß und mit warmer Milch reicht, so füttert er sie mit Worten, Ansichten und sanften Schmeicheleien, die sie sammelt wie Blumen um aus ihnen einen überbordenden Strauß zu gestalten, den sie Zeit ihres Lebens mit sich tragen und im Rückblick auf ihn verwenden wird. Die gemeinsam erlebte Zeit wird hier durch beider Worte wieder lebendig und das ist auch der Ausgangspunkt, um die Graphic Novel zu gestalten.
„Es wird Zeit, Monsieur Proust“
Es lohnt, den Einband dieses Werkes zu betrachten, denn hier versammelt sich auf leichte Art all das, was ihn auszeichnet: Eine junge Frau, die darum bemüht ist das übergroße Portrait des Schriftstellers richtig an der Wand zu platzieren. Während Blätter scheinbar zu regnen scheinen und Kisten schon an den Aufbruch nach dem Tod des Schriftstellers gemahnen, duftet der heiße Kaffee durch das gesamte Bild und erinnert an die Zeit, als er noch von Marcel selbst getrunken wurde. Celeste wird in einer akrobatischen Leistung gezeigt. Geschmückt nur mit dem Schlüsselbund unternimmt sie den schwierigen Versuch, die unterschiedlichsten Anforderungen zu meistern und nach getaner Arbeit den Kaffee zu genießen. Schon diese augenzwinkernde Eröffnung markiert den Ton der Graphic Novel. Celeste wird Dreh- und Angelpunkt. Mit ihr kann man sich über die Marotten des Schriftstellers lustig machen, durch sie aber erfährt man eine Idee, der liebevollen Nähe, welche beide über die Zeiten hinweg verband. Es wird eine Reise vom Tod zur Kindheit und von der Gegenwart der erzählten Rede in die Gegenwart der Erzählung zurück.
Ging es im ersten Teil der Graphic Novel noch um die Einführung in das Leben von Céleste in die Vorstellungswelt von Proust und damit gleichzeitig in das Romanuniversum der Recherche, so thematisiert der zweite Teil die Grenzen und Verbindungen, die Sprache, Kunst und Literatur zum Leben und er gibt – in einer sehr schönen Interpretation des Werkes von Céleste, seine so hintersinnigen wie unscheinbaren Antworten. Ganz so, als hätte Proust Pate gestanden in dem Bemühen, seine langen Sätze in schöne Bilder zu übersetzen und die vergangene Zeit wieder zu finden.
Literatur in bester Bebilderung.
Tartuffel empfiehlt:
Chloé Cruchaudet: „Es wird Zeit, Monsieur Proust.“ Zweiter Teil. Insel-Verlag Frank
Band 1: Gewiss Monsieur Proust.