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Cover des besprochenen Bandes (Ausschnitt) | © transcript- Verlag

Gourmandise-Geschichte 1970-2025

1970 war Deutschland auf der kulinarischen Weltkarte nicht verzeichnet. Das ändert sich in den folgenden Jahren. Ein neuer Küchenstil sorgte für Aufsehen und entfachte Begeisterung und Interesse an guter Küche und ausgezeichneten Köchen. Mit der Küche fanden auch deutsche Weine wieder die internationale Beachtung, die sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon einmal innehatten.

Das Deutsche Küchen- und Weinwunder

„Das Deutsche Küchen- und Weinwunder“, so der Titel des von Joseph Matzerath und Daniel Deckers vorgelegten Bandes beschäftigt sich mit der Gourmandise in Deutschland in der Zeit von 1970-2025.

55 Jahre, in denen sich kulinarisch einiges ereignet hat. Und auch, wenn das Jahr 2025 noch nicht abgeschlossen ist, kann man doch ein erstes Resümee ziehen. Genau dazu lädt das aus einer Fülle von Material entstandene Buch ein: Es begegnet dem im Titel genannten „Wunder“ mit Analyse und Dokumentation, setzt also gegen diffus Unerklärliches die Werte der Aufklärung und bringt eine neue Übersicht in den Bereich des kulinarischen Genusses.

Und genau genommen war das Deutsche Küchenwunder das Gegenteil von dem, was es lautmalerisch ausrief: Es war kein Wunder, als vielmehr das Ergebnis zielgerichteter und kontinuierlicher Arbeit. Doch verbleiben wir einen Moment bei diesem Wort: Wunder. Ein Wort, das sich der Analyse, der genauen Erklärung entziehen möchte. Denn Wunder kann man eben nicht so ganz erklären. Und sicherlich war es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch tatsächlich so, dass man das, was man erreichen wollte, durch die Beschreibung seiner Entstehung erhöhte: Ein Wunder, eine Anrufung des diesseitigen, himmlischen kulinarischen Genusses. 

Und es bedarf in dieser Zeit der frühen 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts einiges an medialer Präsenz, um im Land der Gulaschkanonen, Mehlschwitzen, Schnitzeltellern und Currywürste allgemeines Interesse für gehobene Kulinarik zu wecken. Zu präsent sind die Ernährungsimperative des 3. Reiches: Nahrung hat sättigend zu sein, schnell zu verzehren und oftmals süß. Eintopf und Abendbrot stehen hoch im Kurs. Alles andere ist angeblich eitler Tand, der durch die Verkünstelung der Nahrung von den wesentlichen Dingen des Lebens ablenkt. Mit anderen Worten Koch- und Esskultur wurden in Deutschland lange Zeit nicht mit dem Verschlingen der fad und dettig zubereiteten Lebensmittel in Zusammenhang gebracht. Doch die Zeiten ändern sich.

Nouvelle Cuisine und Neue Köche

Ab 1970 erkennt man mit Blick auf die französischen Nachbarn, dass kulinarisch etwas in Bewegung gerät. Auch in Deutschland ist die industriell gefertigte Nahrung auf dem Vormarsch, auch hier erobern Dosen- und Tiefkühlprodukte den Markt. Es gilt gegenzusteuern. Und die Blaupause findet man in Frankreich in Form der „Neuen und marktfrischen Küche“ eben der „Nouvelle Cuisine“. Zum Coup avancierte die Verabredung einiger französischer Spitzenköche, in dem sie ein Manifest verfassten und dieses medienwirksam veröffentlichten.

Eine deutsche „Neue Küche“ würde also eine ähnliche Idee der marktfrischen Küche und einen medialen Initiator benötigen. Die Köche benötigten also einen genussaffinen Journalisten, der bereit wäre das Projekt mit voller Wortgewalt zu unterstützen, um das Thema Kulinarik medienwirksam zu propagieren. Die Interessengemeinschaft „Neue Köche“, bestehend aus vier in München ansässigen Köchen – Eckart Witzigmann, Hans-Peter Wodarz, Otto Koch und Dieter Biesler – und dem Journalisten Wolfram Siebeck war geboren. Und sie ist das Ergebnis einer rationalen Überlegung und einer klaren Entwicklung. Gleichwohl aber wird das „Küchenwunder“ als Slogan ausgegeben, es hat einfach mehr Glamour, auch wenn mit der Tradition, die um die Wunder des 20. Jahrhunderts ranken kulinarisch nun aufgeräumt werden soll: Denn eines is(s)t Siebeck ganz klar: Die Mehlschwitze und die anderen Verunglimpfungen des guten Geschmacks durch die Nazis gilt es nun endlich aus deutschen Kochtöpfen zu verbannen.

Kulinarisches Grundlagenwerk

Der nun von Josef Matzerath und Daniel Deckers vorgelegte Band dieses Küchen- und Weinwunders, nimmt diese Geschichte zum Ausgangspunkt, um daraus nichts weniger als ein Grundlagenwerk der Kulinarik in Deutschland zu entwickeln. 

Neben dem detailgesättigten spannenden Geschichten, die dank der Füll an Archivmaterial durch die Autoren für dieses Buch zusammengetragen wurden, ist es vor allen Dingen so überraschend, wie sich die Geschichte der deutschen Kulinarik über die Jahrzehnte entwickelte. maßgeblich beteiligt waren hier nur eine Handvoll Köche, sowie ihre Schüler, die oftmals in der Gegenwart prägenden Einfluss ausüben.

Stellvertretend für alle an dieser Entwicklung maßgeblichen Köche seien hier die in die aus heutiger Sicht wirkmächtigsten kurz genannt: Henry Levy im Maître in Berlin, die Walliser Stuben mit dem Koch Jean-Claude Bourgueil in Düsseldorf, die Schweizer Stuben in Wertheim mit den Köchen Jörg und Dieter Müller, der Schwarze Adler mit dem Koch Franz Keller. Daneben betrieben in Otto Koch in München, Vincent Klink in Stuttgart und Dieter L. Kaufmann in Grevenbroich ihre Restaurants ohne finanzielle Unterstützung.

In dieser Zeit orientierte sich die etablierende deutsche Spitzengastronomie stark in der französischen Küche. Doch schon bald gelangten Einflüsse der mediterranen (Dieter Müller, Franz Keller, Wolfgang Staudenmaier) und der asiatischen Küche (Eckart Witzigmann, Albert Bouley) in die heimischen Küchen. Und es ist aus heutiger Sicht spannend zu verfolgen, wie die Spitzengastronomie dabei der Vorläufer für die Veränderung im Kochverhalten an den heimischen Herden war: Denn durch die Arbeiten der etablierten Köche wurden deren Ideen im Food-Journalismus aufgegriffen und den Lesern schmackhaft gemacht. Die heute noch anzutreffende Definition der mediterranen oder asiatischen Küche - so unscharf sie uns mit unserem heutigen Kochverständnis anmuten mag - nahm hier ihren Ausgang und etablierte sich mit ungeahntem Mindesthaltbarkeitsdatum.

Zunehmend besann man sich darauf, die Küche genussvoller und charakterstärker werden zu lassen und zugleich darauf zu achten, die Koch-Ergebnisse besser reproduzierbar werden zu lassen. Und so war es kein Zufall, dass in Spanien der Versuch unternommen wurde, Kochtechniken aus ihrem scheinbar alchemistischen Märchenschlaf zu reißen. Ferran Adrià, schuf mit der Molekularküche die Grundlage, streng nach wissenschaftlichen Methoden zu kochen und zeigte auf diese Art neue Möglichkeiten der Geschmackskomposition auf, die dann in Deutschland ab 2004 durch Juan Amador weiterentwickelt wurde. Rene Redzepi - Schüler von Adrià - lieferte mit seiner an der molekulären Küche geschulten wissenschaftlichen Betrachtungsweise ein neues Konzept der regionalen Küche, welches in Deutschland begeistert aufgenommen und weiterentwickelt wurde.

Und sehr wahrscheinlich wird die Verbindung von wissenschaftlicher Beschäftigung, nachhaltigen Entwicklungsschüben und der Besinnung aus handwerkliche Kochkunst unter Verwendung erstklassiger Zutaten die deutsche Küche in den kommenden Jahren definieren. Die Köche der Gegenwart, wie die der Vergangenheit arbeiten weniger an einem Wunder, als am Wunder des ganz gegenwärtigen Genusses. Die Lektüre zeigt auf, dass wir uns auf die weiteren kulinarischen Entwicklung in unserem Land freuen können. 

 

Tartuffel empfiehlt: 

Daniel Deckers, Josef Mazerath: Das deutsche Küchen- und Weinwunder. Gourmandise in Deutschland. 1970-2025, Transcript-Verlag, Bielfeld 2025. 378 S., 39,00€

 

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