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Cover: Küchenbrigade (Ausschnitt) | © pfifl medien

Kochen ist Traumaarbeit

Am 15. September kommt der Film „Die Küchenbrigade“ in Deutschland in die Kinos. In der von Louis-Julien Petit inszenierten Komödie aus Frankreich muss die ausgebildete und begabte Profi-Köchin Cathy, gespielt von Audrey Lamy, nach einer Kündigung ihrer bisherigen Anstellung nun eine Stelle als Kantinenköchin in einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge antreten. Dabei gelingt es ihr, über das Kochen und Essen, die Jugendlichen aus der emotionalen und kulturellen Reserve zu locken, in ihnen verborgene Ressourcen zu mobilisieren und bei aller Unterschiedlichkeit dennoch ein gelungenes Miteinander zu entwickeln. 

Ein Gespräch mit dem Sozialarbeiter Karsten Neukirchen zum Start „Der Küchenbrigade“ im Kino

Aber funktioniert das wirklich auch so gut in einem so komplizierten Feld, wie der migrantischen Flüchtlingsarbeit? Gerade mit jungen Männern, die einen Großteil der jungen Flüchtlinge darstellen und denen generell eine große Unlust nachgesagt wird, sich am vorgeblich weiblich konnotierten Aufgabenbereich des Kochens zu beteiligen?

Betreuung: Kochend & Sprechend

Um Antworten auf diese Frage zu finden, habe ich den Sozialarbeiter Karsten Neukirchen getroffen. Er arbeitet als Alltagsbetreuer in einem Wohnheim für unbegleitete migrantische Jugendliche und kocht dort auch für sie.

Herr Neukirchen, können Sie zum Anfang einmal kurz umschreiben, in was für einer Einrichtung Sie tätig sind und wie sich ihr täglicher Aufgabenbereich gestaltet?

Die Einrichtung in der ich tätig bin, arbeitet nach Paragraph 42a SGB 8. Das bedeutet wir nehmen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge vorläufig in Obhut. Sie beenden in unserer Einrichtung erstmalig ihre Flucht. Hierbei begleite ich ihre ersten Schritte im neuen Alltag. Rudimentäre Deutschkenntnisse vermitteln, bei Behördengängen begleiten, die ersten neuen Klamotten besorgen. Die meisten kommen nur mit einem Rucksack und den Sachen die sie am Körper tragen. Manchmal klebe ich auch einfach nur Pflaster auf kleinere Wunden. Minderjährig bedeutet halt auch, dass wir eine große Gruppe vierzehnjähriger Menschen betreuen. Zum Glück können nur die wenigsten nichts mit Gemüse anfangen.

Was meinen Sie damit? Gibt es Neuankömmlinge die nur Fleisch oder nur Kohlenhydrate zu sich nehmen?

Es gibt Jugendliche die wollen einfach nur Nudeln mit Ketchup oder Pommes. Die meisten essen aber was gekocht wird. Wir haben es hier ja mit Menschen zu tun, die ganz realen Hunger kennen. Da sind einige Kilos auf der Flucht verschwunden. Wir kochen auch mehrmals in der Woche vegetarisch.

Kochen Sie jeden Tag für die Jugendlichen?

Täglich koche ich selbst eigentlich nur phasenweise. Aber in diesen dann wirklich jeden Tag ein richtiges Essen. Hängt auch stark von der Personalisierung, also von Krankheitsfällen und Urlauben, ab. In einem großen Team ist immer irgendwer krank oder hat Urlaub. Dann übernimmt man schon mal eine extra Küchenschicht.

In dem Film „Die Küchenbrigade“ schafft es die Protagonistin, die Jugendlichen zum mitkochen zu bewegen? Gelingt Ihnen das auch in der realen Praxis?

Stilles Glück - Heimat auf den Teller bringen

Das war vor der Pandemie festes Freitagsprogramm. In großen Gruppen kochen wir aber leider immer noch nicht. Je nach pädagogischem Bedarf kann ein Jugendlicher kochen oder mithelfen. Meistens ist das ein Junge, dem es nicht so gut geht. Wohlgemerkt: Niemandem, der grade bis zu anderthalb Jahre Flucht hinter sich hat, geht es wirklich gut. Diese kochen dann meist ein Gericht aus ihrem Herkunftsland. Danach wirken sie auf mich glücklich und stolz.

Als es noch festes Programm gewesen ist, war nahezu die ganze Wohngruppe beteiligt. An Prozessen mitwirken zu können, die lebensnotwendig sind, kann das Selbstwertgefühl steigern. Außerdem ist Kochen eine wunderbare Tätigkeit gegen die manchmal sehr drückende Zeit und die schlechten Erinnerungen. Sinnliche Tätigkeiten sind elementar in der Traumapädagogik.

Das hört sich sehr positiv an. Sind alle Jugendlichen gleichermaßen zum Kochen zu bewegen? Oder kann man durch die soziologische Brille blickend sagen, bestimmte Jugendliche sind da offener und andere wollen diese Tätigkeit nicht übernehmen?

Meine Einschätzung ist schon, dass Jungs die aus einem sicheren Elternhaus kommen, offener für kulinarische Angebote sind. Jungs, die vor ihrer Flucht auf der Straße gelebt haben, sind schwerer zu begeistern. Hier müsste mehr Bindungsarbeit geschehen, was in unserer Einrichtung nicht möglich ist, da die Jugendliche nur kurz bleiben. Vorgesehen ist maximal ein Monat.

Nationale oder religiös-kulturelle Unterschiede kann ich nicht erkennen. Viele haben Bock zu kochen, manche nicht. Letztere haben halt dann ihre Chance vertan, den Reis so zu kochen, dass er ihnen passt.

Gastro-Pädagogik

Würden Sie sagen, dass es eine Art "kulinarische Sozialarbeit" oder so etwas wie "Gastro-Pädagogik" gibt? Also dass man über Kochen und Essen einen besonderen Zugang zu Menschen in schwierigen Lebenslagen findet und auf diesem Weg auch individuelle Ressourcen mobilisieren kann, an die man auf anderen Wegen manchmal nicht herankommt?

Unbedingt. Kochen und schmackhaftes Essen ist Traumaarbeit. Wie Biographiearbeit, Transparenz und so. Ein besonderer Moment ist auch die Essensausgabe. Ein Moment auf den Verlass ist. Grade zu Lockdown Zeiten, wenigsten ein gutes Mahl am Tag.

Und über die Unterschiede in der Zubereitung von Speisen sind schon einige fruchtbare Gespräche entstanden, in denen einmal ohne Trauer über die Heimat gesprochen werden konnte. Wenn auch nur mit Händen und Füßen. Das Tolle an Kochen und Essen ist, dass es einen heilsamen Rahmen jenseits von Sprache erzeugt. It's Magic.

Letzte Frage: Wie sind Sie eigentlich zum Kochen, gerade auch zum professionellen Kochen gekommen? Wollten Sie auch mal Koch werden?

Ja. Als Kind. Hat mir aber mein Vater ausgeredet, wegen der schlechten Arbeitszeiten.

Ansonsten ist das keine große Geschichte. Mit irgendwas will man sich als junger Mann profilieren. Bei mir wurde es das Kochen. Irgendwann habe ich dann wahrscheinlich mal was Gutes gekocht und schon ging die positive Feedbackschleife los. Und Geschmack zu konstruieren, ist schon sehr befriedigend. Besonders wenn das vorgestellte Bild auf der Zunge zu dem auf dem Herd passt.

Vielen Dank für das Gespräch.

Kochen & Essen schafft Verbindung

Die Eindrücke aus der konkreten Praxis der Sozialen Arbeit mit Flüchtlingen ergänzen noch einmal eindrucksvoll, was die Ernährungssoziologie durch Feldstudien und Medienanalysen bereits als weitestgehend gesichert annehmen kann. Kochen und Essen, besonders in gemeinsamen Settings, bringt Erinnerung meist positiver Art hervor, es überwindet persönliche und kulturelle Grenzen, ohne diese erodieren zu lassen und es kann vorhandenes, aber verstecktes Potential in unterschiedlichsten Menschen aktivieren. Der Schlüssel zu diesen und noch mehr positiven Effekten liegt zum einen in der Kombination von Nützlichen und Sinnlichen, die im Vorgang der Nahrungszubereitung und -aufnahme begründet ist, sowie im unbedingten Genussmoment, der einem gelungenen Essen innewohnt und körperliche, seelische und soziokulturelle Sphären miteinander verknüpft. Geschlechterunterschiede zwischen Frauen und Männern spielen dabei keine so große Rolle, wie uns oftmals suggeriert wird. Stattdessen ist es wichtiger, ob Menschen bereits einen Zugang zur kulinarisch-gustatorischen Welt kennengelernt haben oder ob sie den Deckel zu diesem die Tür zu diesem Schlaraffenland der Möglichkeiten noch öffnen müssen. Eine professionelle Sozial- und Traumarbeit mit gastropädagogischer Expertise kann dabei äußert hilfreich sein.
 

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Gesprächspartner: Dipl.-Soz. Karsten Neukirchen, mehr als nur ein ambitionierter Hobby-Koch, studierte Soziologie mit volkswirtschaftlichen Schwerpunkten in Wuppertal und Trier und begann anschließend in der Sozialen Arbeit, bspw. als Erzieher in einem SOS-Kinderdorf, tätig zu werden. Derzeit arbeitet er als Alltagsbegleiter in der migrantischen Jugendarbeit.  Diverse Fortbildungen u.a. zur Traumatherapie.

Autor: Dr. Daniel Kofahl, Ernährungssoziologe, leitet das Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur APEK Consult, ist Dozent an der Universität Wien und Sprecher der AG Kulinarische Ethnologie. Zahlreiche einschlägige Publikationen zum Kulinarischen Kino sowie zur Ernährungskultur in der kulturpluralistischen Gesellschaft.  Weiterführende Infos.

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Tartuffel empfiehlt:

Die Küchenbrigade. Ab 15.09.2022 im Kino.

 

 

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