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Titel des besprochenen Bandes (Ausschnitt) |© März Verlag

Die Küche der Armen

Die Küche der Armen, ein zeitloses Thema wie dieses nunmehr historisch gewordene Buch unter Beweis stellt. Denn es hat auch 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung nichts an seiner scharfsichtigen Aktualität eingebüßt. Worin aber besteht sein Geheimnis?

 

Ein historischer Blick in die zeitlose Aktualität des Hungers

Einige Erkenntnisse sind so erhellend wie zeitlos: Die Menschen müssen essen, um zu leben. Und die meisten Menschen fristen eine lange Zeit ihres Daseins in Bedrängnis von Hunger. Dies galt schon vor 50 Jahren, als Huguette Couffignal ihr Buch „Die Küche der Armen“ veröffentlichte und es gilt – man muss es an dieser Stelle aussprechen, da man es gerne verdrängen möchte – heute noch mehr als damals. Denn gegenwärtig leiden mehr Menschen unter Hunger als zu irgendeiner anderen Zeit der Geschichte. Und so ist die Geschichte der Menschheit nicht nur eine des Kochens, sondern stets auch eine des Kochens um zu überleben und den Hunger zu bannen.

Und es ist dem März Verlag zu danken, dass er dieses immer noch mehr als aktuelle Buch nach 50 Jahren wieder verlegt. Geschichte des Kochens trifft auf gegenwärtige Probleme und liefert mit erstaunlicher Klarsicht einen Blick auf die unterschiedlichsten Lösungsansätze, welche die Menschen Rund um den Globus gegen die permanente Gefahr des Hungers gefunden haben.

Denn auch wenn Essen in den reichen Nationen zu einer Frage des Lifestyles geworden ist: Hunger ist eine beständige und allgegenwärtige Realität im Alltag der meisten Menschen. Die ärmsten Menschen dieser Welt haben keine Wahl, besonders nicht beim Essen.

Doch dies ist nur der eine Aspekt, der andere ist ein zeitlos erhellender. Denn Couffignal entpuppt sich in ihrem hier dokumentierten Analysen und Synthesen als eine Spinozistin, nicht von der geschliffenen Linse, sondern von den Nahrungsmitteln, ihrer Produktion und Verteilung her gedacht. Und so ist auch 50 Jahre nach der erste Auflage nun zu erkennen, wie verständlich Wahrheiten über Zusammenhänge analysiert und dargelegt werden können, wenn man sich ihre Strukturen in einem größeren Maßstab ansieht. Und: Am Elend der Hungersarmut hat sich seit damals nichts verbessert, im Gegenteil.

 

Analoge Sichtweisen und digitales Verhalten

 

Ein weiterer zwingender Vergleich stellte sich dem Gegenwärtigen Leser bei der Lektüre: Essen erinnert uns regelmäßig daran, dass wir analoge Wesen sind. In den fünfzig Jahren seit der Veröffentlichung des Buches hat sich zweifellos vieles getan und einige Dinge, die im Buch als direkte Formen des Hungers beschrieben werden, könnten heute durchaus auch als Beschreibungen der Formen von Digitalisierung herangezogen werden:

„Ein hungriger Magen hat keine Ohren." Und wer einmal mit eigenen Augen die Opfer der durch Hunger erzeugten Entbehrungen gesehen hat, weiß, wie sich Depression, Apathie und Desinteresse als direkte psychische Folgen verbreiten. Das überwältigende Desinteresse am Anderen ist eine direkte Form des Hungers. Und vielleicht ist dies auch die beste Beschreibung für die Menschen in hochmodernen Gesellschaften. Es ist nicht der Hunger, sondern der Mangel, der sie gegenüber ihrer Umwelt desinteressiert werden lässt: Ein Unfall, ein Opfer? Schnell ein Video drehen, das Versenden der Nachricht macht dich zum Teil eines Lebens, das schon längst nur noch hinter den Mattscheiben der Handys zu spielen scheint. Und Albert Sarraut wusste um den höllischen Kreislauf des Hungers in den europäischen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Der Mann ist nicht genug, weil er nicht genug arbeitet; aber er kann nicht arbeiten, weil er nicht genug zu essen hat.“

Und noch eine zeitlose Wahrheit kann man dem Buch entnehmen: Die Menschen, die keine Möglichkeit mehr haben zu Kochen, sind die Ärmsten. Bald werden sie das tun, was so viele Verzweifelte vor Ihnen getan haben, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen: Sie werden sich von Gräsern und schließlich von Erde ernähren. Aber das Verspeisen von Erde führt nicht nur zum Ersticken des quälenden Hungergefühls, sondern auch zum Ersticken des Körpers, der von Hunger derart gepeinigt, dass er keine andere Möglichkeit mehr sieht, als sich die todbringende einzuverleiben.

Doch das ist nur die den Kochstellen abgewandte Seite der Küche der Armen, die andere jedoch prägt dieses Buch, sie zeigt auf, wie die Küche und das Denken, die Nahrung und der Mangel überall auf der Welt das Leben der Menschheit, aber auch ihren Erfindungsreichtum in Sachen Zubereitung des Gegebenen und Vorhandenen prägen. Ideenreichtum, Abwechslung und immer wieder die Suche nach Geschmack. Dieses Buch ist fundamental verknüpft mit der Conditio Humana: Es beschäftigt sich mit dem Mangel und wie man daraus praktischen Nutzen rund um die Feuerstellen ziehen kann. Nach der Lektüre werden wir nicht nur mit anderem Blick auf Lebensmittel schauen, sondern auch unsere eigenen Ess-Imperative einem kritischen Blick aussetzen. Was kann ich selbst lernen, um Lebensmittelverschwendung einzudämmen? Wie kann ich aus dem Vorhandenen etwas zubereiten, was Hunger in Geschmack also Kommunikation und Glück verwandelt?  Und: Das Buch gibt mehr als nur praktische Anregungen dazu, wie man dem Hunger am eigenen Herd sinnvoll entgegen wirken kann.

 

Tartuffel empfiehlt:

Huguette Couffignal: Die Küche der Armen. Mit 300 Rezepten aus aller Welt. Aus dem Französischen von Monika Junker-John und Helmut Junker. Mit einem Vorwort von Christiane Meister, herausgegeben und inhaltlich überarbeitet von Barbara Kalender, 368 Seiten, Klappenbroschur mit Fadenheftung, Sonderformat: 14 x 23,5 cm, 26,00 €, ISBN: 978-3-7550-0018-1, 26.00€

 

 

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