
Zeitig flüchtig - zeitlos schön: Geschmack. Floris van Dyck Quelle: Wikipedia. Von Floris van Dyck - Eigenes Werk / Thomas1313, CC0, commons.wikimedia.org/w/index.php
Die Chemie des Geschmacks
Mit Escoffier wird diese anarchische Alchemie alter Ordnung, genau betrachtet, analysiert und erklärt. Mit und vor allem nach Escoffier wird man wissen, wie man unter den Topfdeckeln und in den Öfen Geschmack erzeugt. Denn Escoffier macht sich nicht nur Gedanken über den Geschmack und seine Verfeinerung, sondern auch um die verschiedenen Aspekte, die zu seiner gelingsicheren Produktion notwendig sind: Die Welt des Kochens und das Wissen über die Lebensmittel und ihre Zubereitung liegt für Escoffier – wie für jeder Menschen – offen. Es kommt für ihn jedoch darauf an, die wegweisenden Schlüsse aus dem, was er sieht, was er hört, riecht und vor allen Dingen, was er schmeckt zu ziehen. Escoffier wird seine Erkenntnisse nicht nur in klar formulierten Rezepten niederschreiben, er wird auch die Arbeitsvorgänge in den Küchen mit militärischer Disziplin vereinheitlichen und damit die prozesshafte Arbeitsteilung in der Industrie wie etwa das Fließband der Automobilwerke vorwegnehmen. Die gelingsichere Produktion des Geschmacks wird so zum Wegbereiter revolutionärer Veränderungen.
Geschmack herausarbeiten
Bevor Escoffier mit 13 Jahren im Restaurant seines Onkels seine Kochlehre begann, hatte er bereits die Grundtechniken der Zubereitung von Speisen bei seiner Großmutter verinnerlicht. Bevor er also das Gerüst des professionellen Kochs ausbildete, war er mit den Fragen des Geschmacks und seiner Zubereitung vertraut, was ihm Zeit seines Lebens von Vorteil sein sollte. Denn er wird nicht nur auf die effiziente Fertigstellung der Gerichte achten, sondern zugleich deren Geschmack herausarbeiten. Effizienz und Geschmacksintensivität werden für ihn und seid Escoffier die beiden Seiten der Medaille sein, die gute Köche und gute Küchen auszeichnet. Fast zwangsläufig wird er daher sie Organisation der Restaurantküchen grundlegend verändern. Diesen Veränderungen verhilft er zu einem solch durchschlagenden Erfolg, das diese bis in die Gegenwart in den Küchen anzutreffen ist.
„Stand alles schon bei Escoffier.“ Als Schüler von Paul Bocuse hat Franz Keller schon so manche Mode in der Küche kommen und gehen gesehen. Daher weiß er, dass man der Kochklassik treu bleiben kann. Denn die bahnbrechenden Neuerungen, die Escoffier in der Küche einführte, gelten in vielen Grundsätzen bis heute.
Auch wenn Escoffier seinen Guide Culinaire mit den Worten bewarb, seine Rezepte würden auf der Wissenschaft der Gastronomie basieren, so entwickelte er in ihnen in erster Linie seine Wissenschaft des Geschmacks. Denn letztlich sah er die Zweck der unterschiedlichen Gänge eines Menüs weniger in einer wissenschaftlichen, oder gesundheitlichen Pflichtveranstaltung, als vielmehr in einem Genuss, der Speisen und damit einer Wertschätzung der durch die Küche veredelten Lebensmittel. Denn genau darum ging es Escoffier: Die Lebensmittel sollten nach sich selbst schmecken, das Produkt der Star sein. Und natürlich sollte sich die Arbeit in der Küche in geschmacklicher Hinsicht lohnen: Das Gekochte sollte das Rohe veredeln. Um dies zu erreichen, nahm Escoffier alle notwendigen Details unter die Lupe und veränderte entscheidende Parameter. Als professioneller Koch, der die Liebe zum Geschmack von seiner Großmutter vermittelt bekommen hatte, vertraute er auf seine Sinne. Speisen mussten nicht nur wie unter seinem berühmten Vorläufern Carême oder Varenne, schön aussehen oder eben nach sich schmecken. Sie mussten schön aussehen und unverwechselbar schmecken.
Speisen wurden nun nicht mehr auf Buffets ausgestellt, um bewundert zu werden, sondern den Gästen genussvoll auf warmen Tellern – eine weitere entscheidende Neuerung - präsentiert und serviert. Neben dem optischen Eindruck konnten die Gerichte auf diese Weise auch durch ihren Geruch überzeugen, denn warme Gerichte regen den Geschmack schon über ihren angenehmen Duft an. Und in der Tat: Der Geschmack der meisten von ihm entwickelten Gerichte: Estragon am Hummer, Pfeffer auf dem Rinderfilet und Vanille im Dessert betören nicht nur den Gaumen, sie schmecken zuvor an der Nase. Und Escoffier ist sich auch darüber im Klaren, das gutes Kochen allein nicht ausreicht: Die Gerichte werden auf feinstem Porzellan serviert, die Weine in ausgesuchten Gläsern. Man speist in vornehmen Räumen, die den Hauch adeliger Weltläufigkeit ebenso verströmen, wie die Größe einer Zeit, die mit dem Genuss der Speisen aufgesogen wird. Die Kellner servieren diese Speisen in akkuraten Uniformen, alles soll auf die Besonderheit des Moments verweisen. Und in der Tat: Empfang, Auswahl des Sitzplatzes und der Speisen eröffnen den Raum zur Vorfreude auf den in Aussicht gestellten Genuss. Die Abfolge des Menüs – von Escoffier so gelenkt, dass es den Gästen nicht weiter auffällt, da sie die Regeln von Vorspeise bis Dessert schnell verinnerlicht haben – strebt bei allen Unterschieden der Speisen von einem Höhepunkt des Geschmacks auf den nächsten zu. Und findet im Dessert seinen gelungenen Ausklang durch süß angenehmen Geschmack, bei dem die Süße des Desserts immer wieder durch eine angenehme Säure wie beim Pfirsich Melba an Struktur gewinnt.
Geschmack und Umami
Kochvorgänge wie langes Reduzieren von Fonds, oder das Schmoren von Fleischstücken erzeugen, wie unterschiedliche Fermentationsprozesse, einen Wohlgeschmack, dem Escoffier nicht einfach nachstrebte. Er wusste um diesen Geschmack und auch darum, wie man ihn erzeugen konnte. Seine Techniken basierten auf der Überlegung, diesen Geschmack in seinen Restaurants passgenau und schnell zu erzeugen. Die Arbeit in der Küche beruhte daher auf Vorbereitung – Fonds und Saucen – der präzisen Zusammenstellung der Speisen zur Auswahl für die Gäste, dem passenden Ambiente und der Präsentation der möglichst heißen Gerichte. Die Lebensmittel sollten nach sich selbst schmecken und durch die Saucen noch an Geschmacksintensität gewinnen. Kurzgebratene Fleischstücke wurden durch sein Verfahren à la minute zum Inbegriff moderner Kochkultur. Und dies, weil er als Mensch des Genusses, die Eindrücke aller Sinne berücksichtigte.
Zur selben Zeit, in der Escoffier in seinen weltberühmten Restaurants in Paris, Nizza und London sprichwörtliche Erfolge feiert und zahlreiche seiner Gerichte – Filet Rossini, Birne Helene u.v.w. – so berühmt werden, dass sie noch heute im kollektiven kulinarischen Gedächtnis verankert sind, macht sich auf der anderen Seite der Welt ein Wissenschaftler an die Arbeit, dem Geheimnis des Geschmacks auf die Spur zu kommen. Der japanische Chemiker Kikunae Ikeda verfolgt die Frage, woher Dashi seinen außergewöhnlichen Geschmack mit seiner typischen Tiefe herbekommt. Dashi wurde seit dem 8. Jahrhundert in der japanischen Küche in etwa so eingesetzt, wie die Fonds in der französischen Küche: Als Zutat für alles, das einen Spitzer an Würze vertragen konnte, ohne an Eigengeschmack verlieren zu sollen. Durch chemische Analyse der Kombu-Alge wird Ikeda schließlich fündig: Er entdeckt die Glutaminsäure. Chemisch gesehen die Basis für den von ihm in den Speisen gesuchten Wohlgeschmack. Ikeda beschreitet als Wissenschaftler den umgekehrten Weg von Escoffier. Dort, wo der Koch Zeit und Zutaten lange für sich arbeiten lässt, um seine Allzweckwaffe zur Geschmacksgebung einzusetzen, extrahiert der Chemiker diesen Wirkstoff und kann ihn so punktgenau an die Speisen geben. Etwa einhundert Jahre nach dieser Entdeckung werden Wissenschaftler endlich den Beweis erbringen, dass wir nicht zufällig auf der Suche nach diesem Wohlgeschmack sind: Wir alle verfügen am Gaumen über Geschmacksrezeptoren. Nicht nur für Süß, Salzig, Bitter und Sauer, sondern auch für den für sich eher geschmacklosen fünften Geschmack: Umami, den Wohlgeschmack.
Erziehung zum Geschmack
Kein Wunder, das sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein Würzmittel in Europa durchsetzen wird, das den Geschmack der Kochkunst mit den Möglichkeiten industrieller Herstellung verbindet: Der Maggi Würfel hält von Paris aus seinen Siegeszug in die Küchen Europas und Escoffier wird sein Aroma lobend erwähnen. Noch am 15. Oktober 1926 bringt Escoffier das Ergebnis seiner Überlegungen zu Papier . Mittlerweile wird auch die Maggiwürze durch Mononatriumglutamat aufgepeppt. Ob das Escoffier gemundet hätte ist als Frage so offen, wie diejenige, ob man das in der industriellen Lebensmittelproduktion nicht wegzudenkende Mononatriumglutamat in der privaten oder professionell betriebenen Küche überhaupt einsetzen sollte. Die Antwort gibt Dr. Michael Podvinec – ein kochbegeisterter Molekularbiologe – im Buch Umami .
Unter dem Titel: „Umami – Warum der fünfte Geschmack unserem Körper gut tut“, erläutert er nicht nur, warum wir alle auf Umami getriggert sind, sondern geht auch auf die Zusammenstellung von Umami in der Ikeda-Analyse und der Koch-Synthese ein. Welches ist besser? Für den Biochemiker gibt es hier keinen Unterschied, denn das Molekül ist dasselbe. Und doch ist das Geschmackserlebnis im fertigen Gericht ein anderes, wenn es durch glutamatreiche Lebensmittel, lange Zubereitungszeiten oder durch die Zufügung von Natriumglutamat erzeugt wird. Im letzten Falle wird eine schnelle Umami-Geschmacksspitze erzeugt, die schnell abfällt. Im ersteren Falle wird die Geschmackswahrnehmung tiefer und länger anhaltend sein. Auch spricht nichts dagegen lange Schmorzeiten (Bolognese-Sauce), mit glutaminreichen Lebensmitteln (Parmesan-Käse) zu verbinden, um den Umami-Effekt zu steigern. Genau das, also, was Escoffier mit seinen zahlreichen Techniken auf die Teller und an den Gaumen zaubern wollte:
Wohlgeschmack für alle Sinne.