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Cover des besprochenen Buches (Ausschnitt) |© Springer Verlag

Ausgezeichnet organisiert

Genuss kann einfach sein. Ein schönes Brot, Butter, eine frisch geerntete Tomate. Etwas Salz, ein wenig Schnittlauch. Bei einem Restaurantbesuch aber würden wir uns ungerne mit solch einfachen Genüssen allein abspeisen lassen. Hier steigt die Erwartungshaltung. Und bei gehobener Gastronomie erwarten wir nicht einfach stilvolle Sättigung, sondern immer wieder überraschende Genussmomente. Im besten Falle Gerichte mit der speziellen Handschrift des jeweiligen Chefs.  

 

Wie Spitzengastronomie zuverlässig guten Geschmack erzeugt

Sollte die Soziologie sich mit Genuss auseinandersetzen? Unbedingt. Denn es ist eines ihrer zentralen Anliegen, Menschen in Gesellschaften zu beobachten. Und neben Macht, Ruhm, Familie, Reichtum sowie einem sorgenfreien Leben ist der Genuss sicherlich eine der grundlegenden menschlichen Antriebe. Immerhin kommt ja die Weisheit, die wir uns selbst als homo sapiens zuschreiben von der zweiten Bedeutung des Wortes sapere: Geschmack. Folgerichtig also, dass sich schon lange vor der Entwicklung der Soziologie als eigenständigem wissenschaftlichen Fach, zahlreiche Philosophen dem Genuss bei Tisch zugewendet haben. Und auch Immanuel Kant, der landläufig eher als asketischer Kostverächter dargestellt wird, war ein Meister darin, sich seinen persönlichen Genuss zu organisieren. Denn der Philosoph aus Königsberg war nicht nur berühmt dafür, seinen Spaziergang so pünktlich zu absolvieren, dass man seine Uhr danach stellen konnte, er rührte auch seinen Senf selbst an, nicht um ihn heimlich zu genießen, sondern um ihn seinen Tischgesellschaften anzubieten. Zu diesen Tischgesellschaften lud er ausgesuchte Gäste ein, die ihm das Mahl durch anregende Konversation zu veredeln wussten. So gab es bei Kant nicht nur zahlreiche Gänge und ausgesuchten französischen Wein, sondern auch einen weitreichenden Plan, welche Personen zusammen am Tisch eine nette Gesellschaft darstellen würden. Die Organisation von geistigem und leiblichem Genuss waren für Kant derart wichtig, dass er einen zentralen Teil seines langen Arbeitstages extra dafür reservierte.

In Folge gibt es zahlreiche Soziologen, die sich dem Geschmack zugewendet haben. Ausgehend vom philosophisch geprägten Diktums Ludwig Feuerbachs: „Der Mensch ist, was er isst“ analysierten sie das Essen vom Rohen zum Gekochten (Claude Lévi-Strauss), den Weg der Gabel und des Messers im Laufe der Zivilisation (Norbert Elias), wurden selbst zu Restaurantbesitzern (Alphons Silbermann), oder interpretierten gleich die ganze Mahlzeit (Georg Simmel) im Sinne ihres Fachs. An dieser Stelle könnte man natürlich auf die feinen Unterschiede (Pierre Bordieu) achten, aber schweifen wir nicht ab.

Mit anderen Worten: Die Ernährungssoziologie hat sich nicht nur etabliert, sie ist integraler Bestandteil ihres Faches, das an anderen Stellen gerne davon schweigen möchte. Insofern ist das hier vorliegende Buch nicht nur erstaunlich, es ist eine Sensation, die auf ganz unscheinbar daherkommt. Denn aus dem Bereich der Organisationssoziologie hat man bisher nicht den Schritt in Richtung Ernährung unternommen. Nun aber wagen es die Autoren nicht nur, sie greifen gleich nach den Sternen des Genusses und das mit Augenmaß und Zielorientierung, um über den Gegenstand ihrer Untersuchungen Klarheit im aufklärerischen Sinne zu schaffen.

 

Organisation des Genusses

 

Maximiliane und Uwe Wilkesmann, Professoren für Organisationssoziologie haben es sich zur Aufgabe gemacht, die beiden Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die sie mit Freude angehen professionell zu verbinden: Ihren Beruf und ihre Leidenschaft für gute Restaurants. Was also lag näher als ihre Profession, die Organisationssoziologie auf Restaurants anzuwenden? Wie, so fragten sie sich, ist guter Geschmack organisiert, damit er jeden Tag für jeden einzelnen Gast gerade auch auf sehr hohem Niveau sicher erreicht werden kann?

Was zunächst klingt, wie eine Entzauberung der Sternegastronomie - das Wort selbst evoziert ja ein Spiel mit dem Zauber, werden doch die Sterne, wenn nicht vom Himmel geholt, so doch auf die Teller gelegt - ist schlicht der geniale Gedanke, den organisatorischen Charakter der „Gemische und Gemenge“ (Michel Serres), also der gehobenen Gastronomie zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen werden zu lassen.

In ihrem auf dieser Idee basierenden Buch: „Nicht nur eine Frage des guten Geschmacks“ zeigen sie eindrucksvoll, wie durchdacht die Organisation geschmacksbringender Gastronomie ist und welche anschaulichen Leistungen Soziologie erbringen kann, wenn sie ihren großen Werkzeugkoffer (Claude Lévi-Strauss) dazu verwendet, das zu analysierende Terrain und die Wechselwirkungen von bisher nicht im Zusammenhang betrachteten Systemen wie Organisation und Geschmack klar zu beschreiben.

 

Geschmack – warum persönlich, wenn es auch sachlich geht?

 

„Warum persönlich, wenn es auch sachlich geht“ (Bittermann 1997), die Beschreibung, welche auf zahlreiche Restaurantkritiken zutreffend wirkt, wird hier umgekehrt. Denn bei aller Liebe zum Thema geht es den Autoren darum, Sachlichkeit nicht nur walten zu lassen, sondern diese auch für den Leser nachvollziehbar herzustellen.

Dabei ist es ein Verdienst der Autoren, dass sie ihre persönliche Begeisterung für das Thema zur Geltung bringen, in der Sache gleichzeitig aber ihre Begeisterung für Sachlichkeit in der Anwendung unter Beweis stellen. Wie also nähert man sich der Produktion von Geschmack?

Zunächst stellen die Autoren das System der ausgezeichneten Gastronomie vor, indem sie die Kriterien der Restaurantkritik beschreiben und herausarbeiten, wie einige von ihnen im Laufe der Zeit selbst zu Institutionen als namhafte Restaurantführer geworden sind.

Dabei werden die unterschiedlichen Ambitionen der Restaurantführer ebenso benannt, wie die Produktionsschritte, die schließlich zu ihren Bewertungen führen. Nachdem nun das System der Spitzengastronomie anhand seiner Bewertungen „von außen“ analysiert wurde, richtet sich der Fokus der Betrachtungen auf die Produktionsbedingungen. Als Referenz wird nun Auguste Escoffier genannt. Völlig zu Recht, denn er war es der durch sein Standardkochbuch und seine Rezepte bis heute bekannt. Er vereinfachte und systematisierte Rezepte, verschlankte Zubereitungsarten und vermied alles Überflüssige, wie Garnituren, oder unpassende Komponenten auf den Tellern. Entscheidend aber war seine Neustrukturierung der Küchenorganisation, welche die Köche an den unterschiedlichen Posten effizienter werden ließ. Klarheit des Genusses ging mit Struktur in der Küche einher. Ein System, das bis heute in den gehobenen Küchen der Welt praktiziert wird. Klar, dass die Logistik innerhalb der Küche, aber auch im Gastraum immer wieder analysiert wird, ist sie doch entscheidend, um Zeit einsparen und Laufwege optimieren zu können. Wie werden die Posten in der Küche platziert? Wie wird die Logistik der Teller und Gläser bei einem 10 oder Mehrgängigen Menü für einen Gastraum von 50 oder mehr Sitzplätzen organisiert?

Es sind diese grundlegenden Fragen, die veranschaulichen, welche Organisation schon vor dem Kochen angelaufen sein muss. Wo werden die Teller angerichtet? Wie viele Köche arbeiten daran? Wo wird kontrolliert? Durch wen werden die Teller zu den Gästen gebracht? Wie funktioniert der reibungslose Rücklauf über die Spülküche? An dieser Stelle ist noch nicht vom Einkauf, der Zubereitung, den unterschiedlichen Temperaturen und Texturen auf den Tellern die Rede. Klar aber ist, dass hier zeitliche Abläufe in den Blick genommen werden müssen. Denn entspannt kann ein Essen nur sein, wenn die Räder der Organisation ineinandergreifen und es für die Gäste zu keinen zeitlichen Verzögerungen kommt. Anschaulich wird das sinnvolle Zusammenspiel von Küche und Service, wie auch die unterschiedlichen Formen der Motivation zu kulinarischen Spitzenleistungen herausgearbeitet.

 

Kreativität vs. Innovation

 

Ist die Spitzengastronomie innovativ oder kreativ? Innovation eher aus dem industriellen Bereich. Aber die Spitzengastronomie braucht immer wieder Innovationsschübe, wie durch das El Bulli, welches eine Verwissenschaftlichung des Kochens hervorbrachte. Und ja: von Molekularküche wird kaum noch gesprochen, weil es niemand mehr hören möchte, aber dennoch: Das zentrale innovative Moment ist sicherlich, dass durch die wissenschaftliche Herangehensweise von Ferran Adrià die Köche zunehmend anfingen zu hinterfragen, was sie da eigentlich tun und warum sie Handwerks in erster Linie kopieren, anstatt nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen. Eine andere wichtige Innovation waren die regionalen Gedanken der New Nordic Cuisine, wie sie René Redzepi in seinem Restaurant Noma mustergültig zur Geltung brachte - nicht zufällig gibt es auch hier ein Laboratorium und nicht zufällig musste dieses, sich den klassischen Kriterien der Restaurantkritik in zahlreichen Punkten widersetzende Konzept warten, bis ihm im September 2021 durch den Guide Michelin endlich die Auszeichnung verliehen wurde, die ihm gebührt. Drei Sterne leuchten nun über diesem Restaurant, das schon 2003 zukunftsweisende Restaurantkonzepte entwickelt hat.

Durch diese Innovationsschübe wurden die Chefs in den einzelnen Restaurants in die Lage versetzt, über ihre Arbeit im Ganzen und seine Teilaspekte neu nachzudenken, was enorme kreative Freiräume eröffnete, wie man an der kometenhaften Entwicklung der Spitzengastronomie seit Beginn des 21. Jahrhunderts absehen kann – ein Blick in Kochbücher aus dieser Zeit illustriert diesen Unterschied sehr anschaulich.

Lange wurde darüber gestritten, ob das Kochen der Spitzengastronomie nun noch dem Handwerk, oder der Kunst zuzurechnen sei. Sicherlich ist exzellentes Handwerk die Grundlage für künstlerische Kreativität, hinzu aber kommt auch die wissenschaftliche Reflektion, nicht nur am Herd, aber auch dort.   

Über Genuss lässt sich nicht streiten. Wie falsch diese so oft zitierte angebliche Alltagsweisheit ist, beweist diese Pionierleistung, die ihn diesem Buch steckt: Über Genuss kann man streiten, vor allem aber kann man ihn organisieren. Denn auch kulinarische Kreativität benötigt ein organisatorisches Korsett, um sich zur vollen Entfaltung bringen zu können.

 

Tartuffel empfiehlt:

Maximiliane Wilkesmann, Uwe Wilkesmann: Nicht nur eine Frage des guten Geschmacks! Die Organisation der Spitzengastronomie. 236 Seiten, geb., Heidelberg 2020, 19,99€

 

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