Bee Wilson: Geschichte der Küchenutensilien
Bee Wilson beleuchtet die Geschichte der Küchenutensilien
Komisch, dass in der Zwischenzeit niemand darauf gekommen ist. 1939 erscheint das zwar epochemachende aber in der Zwischenzeit längst wieder vergessene Buch des deutschen Soziologen Norbert Elias: Der Prozess der Zivilisation. In diesem groß angelegten Werk beschreibt Elias den Skandal, welche die Verwendung der Gabel durch eine byzantinische Prinzessin am Hofe Venedigs im 11. Jahrhundert auszulösen vermochte. Hier wagt es doch tatsächlich eine Frau die von Gott gegebenen Speisen mit etwas anderem als den von Gott dafür vorgesehenen eigenen Händen zum Mund zu führen. Es sollte noch bis zum Ende des Mittelalters dauern, bis sich die Verwendung der Gabel zu einem kulturellen Bedürfnis der höfischen Schichten Mitteleuropas entwickelt.
Gleichzeitig entwickelt sich ein wahrer Reigen an Vorschriften, wie man ein Messer bei Tische zu führen habe, bis die bei Tisch verwendeten Messer so harmlos sind, dass man keinen anderen Gast ernsthaft mehr mit ihnen verletzten kann. Um es kurz zu machen: Norbert Elias wird ein international anerkannter Soziologe, seine Theorien erleben Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, rund um sein Todesdatum, eine kurze Renaissance, bereichern aber den soziologischen Diskurs nicht nachhaltig. Mittlerweile aber nehmen sich die Kulturwissenschaften auch vermehrt der Probleme rund um das Essen an und doch ist es eine britische Journalistin, die uns die Hardware rund um Herd und Tisch in einem völlig neuen Licht vorführt.
Strukturalismus der Küchenwerkzeuge
Die 1974 in Oxford geborene Beatrice Dorothy Bee Wilson schreibt salopp gefasst über unser technisches Verhältnis zu Lebensmitteln, die Art, wie wir sie zubereiten und präsentieren. Sie arbeitete unter anderem als Kolumnistin für die Sonntagszeitung "The Sunday Telegraph". Titel Ihrer Kolumne: „The Kitchen Thinker“, für die sie bisher bereits drei Mal als beste Journalistin auf dem Gebiet der Lebensmittel ausgezeichnet wurde.
Mit „Am Beispiel der Gabel“ legt sie eine Kulturgeschichte der Küchenwerkzeuge vor, die strukturalistisch im Ansatz unser kulturell determiniertes Verhältnis zu Nahrungsmitteln in den Blick nimmt. Welche Geräte ergeben sich notwendig? Messer sicherlich, Gabeln nur bedingt. Wann und wie hält das Maßhalten Einzug in die Küche? Wie bändigt und beherrscht man offenes Feuer? Wieso gibt es kaum noch einen über offener Flamme gerösteten Braten? All dies sind Fragen die unmittelbar mit den zur Verfügung stehenden Kochutensilien in Verbindung stehen. Ob diese Fragen berechtigt sind? Sie sind überfällig. Man könnte sich mal eine Denksportaufgabe machen und überlegen, wie unser Haushalt, unser Lebensmittelhandel und unser Konsumverhalten aussehen würde, wenn Kühlschränke für Privathaushalte unerschwinglich wären – so wie sie es bis gegen Ende des zweiten Weltkriegs in Europa waren.
Jenseits hypothetischer Fragen ist der Autorin zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass sich in unseren Küchen eine versteckte Intelligenz findet. All die Gegenstände, deren täglichen Gebrauch wir so gewohnt sind, dass wir ihn kaum noch registrieren, haben ihre eigene Geschichte der Verbesserung, Veränderung und Verdrängung erlebt und unabhängig davon, wie wir unsere Küchengeräte schlussendlich bewerten wollen, wir sollten uns stets daran erinnern: Die Gerätschaften in der Küche sind – neben der Arbeitserleichterung die sie darstellen – stets die moderne Verkleidung für die Gefahr, die im Schneiden und Erhitzen, also den zentralen Küchenvorgängen, schlummert. Mit Messern kann man sich schneiden, an heißen Saucen, an spritzendem Öl, an kochendem Wasser, an heißen Brätern und Kochplatten kann man sich verbrühen. Doch halten wir uns stets zum Vergleich eine Zahl vor Augen, die wir meist nicht präsent haben. Weltweit sterben pro Jahr etwa 1,5 Millionen Menschen an Folgen einer Rauchvergiftung, die sie sich zumeist an einem offenen Feuer in einer schlecht belüfteten Küche zugefügt haben.
Kultur
Die menschliche Fähigkeit zu Kochen bezeichnet den Beginn der menschlichen Kultur und erweiterte die Produktpalette unserer Lebensmittel erheblich. Allein die heute als Grundnahrungsmittel bekannten Lebensmittel wären für uns in rohem Zustand nicht essbar. Zugleich werden Nahrungsmittel durch den Vorgang des Kochens nicht nur verdaulich, sondern auch haltbarer. Das Kochen selbst ermöglicht uns einen gewissen Müßiggang und damit den Beginn der Kultur. Doch damit nicht genug, das Kochen versetzt uns erst in die Lage allmählich einen kleineren Kauapparat zu entwickeln und schafft der Menschheit damit die Voraussetzung, eine artikulierte Sprache zu entwickeln.
Rund um die Welt finden sich die ersten Nachweise menschlicher Kultur um offene Feuerstellen, die zugleich zum Kochen dienten. Dabei kommt der Beherrschung des Feuers selbst, mit all den dazugehörigen Techniken, um etwas Nahrhaftes zu bereiten, eine zentrale Bedeutung zu. An dieser Stelle nimmt das Buch seinen Ausgangspunkt: Was benötigen wir, wenn wir sagen, wir kochen? Seit wann benötigen wir bestimmte Utensilien und warum? Schon das Kochen, im Unterschied zum Braten auf offener Flamme stellt eine kulturelle Entwicklung dar. Man braucht auf einmal nicht mehr nur die offene Flamme, in welche man Nahrungsmittel wirft, man braucht ein Behältnis – eine Muschelschale, einen Tiermagen, einen mit einem Hohlraum versehenen Stein – um Nahrungsmittel in einer Flüssigkeit über der Flamme zu garen.
Zweckmäßigkeit
Das Feuer und seine Beherrschung in geschlossenen Räumen dürfte auch ein wesentlicher Grund sein, weshalb Männer den Beruf des Kochs einschlugen: die Räume waren sehr heiß und unentwegt züngelten Flammen. Köche waren spärlich bekleidet, Frauen mit traditionellen weiten Röcken stellten eher ein Angriffsziel für Flammen dar. Erst als im 16. Jahrhundert in Großbritannien gemauerte Ziegelherde zum Einsatz kamen, folgen kurze Zeit später erstmals von Frauen für Frauen geschriebene Kochbücher. Die Ziegel zügelten die Flammen. Frauen konnten gefahrloser kochen.
Im 16. Jahrhundert diversifizieren sich auch die Messerfunktionen. Plötzlich tauchen Messer auf, die nicht mehr für alles eingesetzt werden, sondern nur für besondere Arbeiten. Auf einmal gibt es Ausbeinmesser, Schabmesser, Kuchenmesser, Pastamesser. Die Aufgaben in der Küche differenzieren sich. Doch erst die aufklärerisch denkenden Franzosen fassten die Regeln für Schnitte und die Messer, mit denen diese auszuführen sind, zusammen. Nicht zufällig entwickelt sich zeitgleich das System der Gastronomie in Frankreich und die französische Küche schickt sich an, die Vorherrschaft der britischen Küche – man denke nur an die Crème anglaise, benannt zu der Zeit, als man im absolutistischen Frankreich noch zur Küche des Empires aufblickte – zu brechen, denn hier gehen Beobachtung, Struktur und die Zusammenführung von bisher getrennt gedacht Konzepten eine Symbiose ein. Die französische Küche wird für annähernd 200 Jahre damit das Maß aller Küchendinge sein und diese Vormachtstellung erst einbüßen, als ein anderer wissenschaftlicher Ansatz – die Molekularküche des Ferran Adrià – die alten statischen Regeln ins Wanken bringt, aber das ist eine andere Geschichte.
Doch die offene Flamme war die eine Sache. Mit Beginn der industriellen Revolution werden gusseiserne Herde für Privathaushalte erschwinglich, allerdings ist die Ablehnung zunächst groß: es fehlte die offene Flamme. Erst durch zahlreiche Konstruktionen – der Herd fungiert kurze Zeit später als Ofen, Warmwasserkocher und Herd zugleich, wird diese funktionale Variante angenommen und durch die Einführung von Gas erlebt sie letztlich ihren Siegeszug, denn endlich ist die Flamme sofort vorhanden und gleichmäßig einsetzbar. So kann, wie es in einem Kochbuch von 1880 heißt, „ein Frühstück für eine mittelgroße Familie, das beispielsweise aus Kaffee, Kotelette, Steak oder Speck, Eiern und Toast besteht, mit Leichtigkeit in 15 Minuten zubereitet werden“. Knapp 60 Jahre später kochen rund ¾ aller Haushalte mit Gasöfen. Man darf gespannt sein, ob die Induktionsöfen eines Tages einen vergleichbaren Siegeszug zu verzeichnen haben werden.
Maße
Fannie Merrit Becker revolutionierte 1896 mit ihrem Kochbuch „The Boston Cooking-School Cook Book“ die Kochkunst. Sie maß genau, nicht eine Handvoll von dem, eine Prise von dem, sondern eine „gestrichene Tasse“ und einen „gestrichenen Löffel“. Um dieses Beispiel zu unterstreichen hantierte sie bei ihren Kochvorführungen stets mit einem Messer, strich das Mehl in der Tasse und den Zucker auf dem Teelöffel glatt. Schließlich ging es um Genauigkeit und exakte Maße. Ihr Kochbuch verkaufte sich bis 1915 mehr als 360.000 mal und prägte das Kochverhalten der Amerikanerinnen und die Maßeinheit der Cups, die heute noch in den USA als volumetrische Maßeinheit, denn genau genommen misst man kein Gewicht, sondern stets das Volumen einer Zutat, Verwendung findet. Sie gab damit den jungen Amerikanerinnen – an wen sonst sollte ein Schulkochbuch gerichtet sein – das Gefühl, die Küche und die Kochvorgänge kontrollieren zu können.
Was das Beispiel auch treffend zeigt, ist die schiere Unmöglichkeit der exakten Reproduktion von Rezepten. Eine gestrichene Tasse grüner Bohnen wird stets eine andere Menge Bohnen fassen, ein gestrichener Teelöffel Schnittlauch ist schlicht auf diese Weise nicht zu messen, das Messer wird annähernd alle Schnittlauchröllchen vom Löffel ziehen. Aber: exaktere Maße haben ihren Teil dazu beigetragen, dass man Rezepte nicht nur zwischen Köchen, sondern auch für Laien verständlich und nachvollziehbar machte. Kein Wunder also, dass wir mittlerweile – von der Waage, über die sekundengenaue Stoppuhr bis zum digitalen Bratenthermometer – über ein riesiges Arsenal an Messwerkzeugen verfügen, es nimmt dem Anfänger die Angst vor dem Scheitern und sichert dem Fortgeschrittenen ein brauchbares Kochergebnis weitgehend zu. Dennoch sind beim Kochen, die Sinne – schauen, tasten, riechen, schmecken, hören - am Herd gefragt. Mithin hat die „Cup“ Maßeinheit einen großen Vorteil, man braucht nur eine Tasse, um Volumen und Gewicht abzumessen, spart sich also eine, bedenken wir das Jahr des erscheinen des Schulkochbuches, in Pionierzeiten unerschwingliche Waage. Und eines sei an dieser Stelle lediglich nachgetragen: Als Nathan Myhrvold damit anfing Backöfen auf ihre Temperaturgenauigkeit hin zu untersuchen, stellte er fest, dass die Genauigkeit in den traditionellen Öfen einfach nicht richtig funktioniert, „die Temperaturanzeige, der wir fälschlicherweise vertrauen, spiegelt in Wahrheit nicht das wider was im Ofen tatsächlich vor sich geht.
Mindware
Dialektisch bezeichnet der Skandal, den der Gebrauch der Gabel im mittelalterlichen Venedig ausgelöst hat, die Hinwendung zur Neuzeit. Die Menschen beginnen allmählich nicht mehr alles als gottgegeben aufzufassen und machen sich Gedanken über ihre Manieren, besonders um die bei Tische. Fast zeitgleich werden die seit Urzeiten offenen Feuerstellen zunehmend eingefasst, das Feuer gebändigt und eine Vielzahl an Kochutensilien, von den unterschiedlichen Messern und Töpfen, Bratpfannen und Grillrosten bis hin zu modernen Öfen und Küchenutensilien, erfunden, gebraucht, verworfen und weiterentwickelt.
So wie der Akt des Kochens den Beginn der menschlichen Kultur symbolisiert, bezeichnen die Techniken der Zubereitung, der Darreichung und der Aufnahme der Nahrung – kleine Erbsenzählerei: wie isst man Erbsen richtig? – die Veränderungen, Erweiterungen und Verfeinerungen menschlicher Ess-Kultur. Bee Wilson hat mit ihrem grundlegenden Buch den stillen, aber unverzichtbaren Helden der Küche ein Denkmal gesetzt, das sich noch über weit größere Zeit- und kulturelle Räume erstreckt, als es an dieser Stelle aufgezeigt werden konnte. Hierbei sei eine Anmerkung erlaubt: Das Buch und die Erzähltechnik der Autorin mäandert zeitweise etwas ziellos durch Zeiten und Räume, auch führt sie die unzählbaren Verweise, Belege und Fundstücke selten zu einer analytischen Sichtweise, gar einem Fazit zusammen. Hier merkt man der Autorin nicht nur den Spaß am Gegenstand, sondern auch die Last dieser Mammutarbeit an. Die strukturalistische Form ist gegeben, leider verkommt diese dann doch an vielen Stellen lediglich zu einer ideengeschichtlichen Aufzählung. Aber allein diese Aufzählung würde die Empfehlung der Lektüre rechtfertigen. Allein die hier kursorisch benannten Beispiele, die das Buch liefert, zeigen wesentlich mehr Zusammenhänge auf, deren Verbindungspunkte man nun aufnehmen sollte. Wer das Buch gelesen hat wird seine eigene Küche mit all ihren schier unscheinbaren technischen Hilfsmitteln mit anderen Augen betrachten, anders über sie denken und in Zukunft sicherlich auch anders über sie schreiben. Referenz bleibt in diesem Falle selbstredend – man führt sie ja weiterhin regelmäßig zu Munde – die Gabel.
Lektüretipp
Bee Wilson: Am Beispiel der Gabel - Eine Geschichte der Koch- und Esswerkzeuge
Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff. Insel Verlag Berlin 2014. 373 Seiten, geb., 25,-€
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Zutaten: Küche
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