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Hänsel und Gretel als kulinarische Bildung | © Tartuffel

Märchen zum Aufessen

Das Grimm’sche Märchen von Hänsel und Gretel ist oft als Anspielung auf die Armut breiter Bevölkerungsschichten verstanden worden. Doch ist der Hunger, der in der Erzählung thematisiert wird tatsächlich einer des Magens? Und wie kann man Kindern Lesehunger schmackhaft machen? Zwei zentrale Fragen, die in der Reihe Cultgenuss miteinander verwoben, thematisiert und praktiziert werden.

Hänsel und Gretel als Cultgenuss

Natürliche Zutaten, einfache Zubereitung, Aufmerksamkeit, Zeit und gemeinsame Beschäftigung mit Essen. Zutaten, deren Mangel allgegenwärtig beklagt wird. Zwar hungern wir nach mehr Zeit, besseren Möglichkeiten der direkten Kommunikation und gesünderer Ernährung. Wie aber will man dies praktizieren? Wie den Kindern ein gutes Beispiel geben?

Hunger kann ein Motor sein, Hunger nach Gemeinsamkeit, nach Wissen und nach Geschmack. Ein Märchen kann dabei helfen, aus Lesehunger kulinarische Wissbegierigkeit werden zu lassen. Denn fragt man sich, welche kulinarischen Zutaten das Märchen bereithält, formt sich schnell ein Speisezettel und eine Interpretation des Märchens. Erst als die Kinder den Reichtum des Waldes erkennen, können sie ihren Hunger wirksam bekämpfen und ihre Wissensarmut überwinden. Was also lieg da näher, als die Geschichte des Märchens mit kulinarischer Bildung zu verbinden?

Drei Köche – regionale Zutaten

 

Im Rahmen der von Fausto Castellini initiierten Veranstaltungsreihe Cultgenuss trafen am 08 Oktober 2018 die drei Köche Enza Leone (Matera), Julian Reinisch (Innsbruck) und Jean-Marie Dumaine (Sinzig) in der Kölner Zentralbibliothek zusammen, um aus den Zutaten ihrer Regionen ein Hänsel und Gretel Menü für Kinder zuzubereiten. Den Kindern – die schon zuvor einen Parcours durch die Bibliothek absolviert hatten, wurden Wildkräuter aus dem Rheintal, Beeren aus Tirol und Brot mit Kastanienhonig aus Matera präsentiert. Während sie darüber nachdachten, an welcher Stelle diese Zutaten wohl im Märchen auftauchen könnten, wurde ein Wildkräutersalat mit Feigen und Walnüssen vor ihren Augen zubereitet, das geröstete Brot mit Honig bestrichen und das Obst mit Joghurt und Löwenzahnhonig verfeinert. Dabei hatten die Kinder ausreichend Zeit, um mit allen Sinnen zu genießen, nachzudenken, Fragen an die anwesenden Köche zu stellen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Welche Beeren haben Saison? Wie macht man Löwenzahnhonig? Was ist Kastanienhonig? Welche Zutaten braucht man für das Brot? Wie heißen die Wildkräuter und wie schmecken sie? Ein Märchen zum Aufessen als kulinarische Bildung.

Analoger Genuss in der Kölner Zentralbibliothek

 

Doch auch für Erwachsene hält das Märchen genügend Zutaten bereit. Unter der Schirmherrschaft von Georg Maushagen – passionierter Zuckerbäcker und Schirmherr von Cultgenuss - bereiteten die drei Köche ein märchenhaftes Menü für die im Bibliotheksfoyer versammelten Gäste zu. Das Essen und die Zutaten der einzelnen Gänge lieferten dabei den Rahmen, um über die Vorzüge von guter Literatur und regionalen Zutaten zu diskutieren, denn die Köche brachten nicht nur ihre regionalen Spezialitäten kurzerhand selbst mit, um folgende Gänge zu präsentieren: 

Ofengemüse mit Gewürzaromen, Trüffel, Wildkräuter und Salbei Vinaigrette

Bohnensuppe mit Wildschweinsalsiccia und Maronen

Saiblingsfilet mit Erdäpfelstampf, Mangoldgemüse, Schwarzbrotcrumble und Senfsespuma

Wels mit Pastinaken, schwarzen Rettich und Trüffel

Bratklöschen aus Brot aus Matera mit Tomatensauce und Knoblauch

Herbstlicher Apfelstrudel mit Vanillesauce und Beerengarnitur

Kürbis-Mohn Mousse mit Feigen und Erdbeeren

Einfache Lebensmittel in unglaublich geschmackvoller Umsetzung. Natürlich sorgte die Verwendung von Trüffeln im Menü für Gesprächsstoff. Sollte denn ein solcher Luxus tatsächlich mit dem Märchen vereinbar sein? Zumindest ist es wahrscheinlich, dass sich im Wald von Hänsel und Gretel Burgundertrüffel finden lassen, solche aromatisierten zusammen mit Wildkräutern das Ofengemüse des ersten Ganges, um die Gäste direkt in die Aromatik des Waldes zu entführen. Bohnen und Maronen – zwei Zutatensäulen der Küche Materas, der europäischen Kulturhauptstadt 2019, die kulinarisch vor allem für ihr aromatisches Brot berühmt ist – begleiteten die Wildschweinsalsiccia auf herbstliche Weise, während der nächste Gang die Frische des Wels mit den erdigen Aromen von Rettich und Trüffel gekonnt zu vermählen verstand, ok, im Märchen sind es Krebse, die von Gretel für ihren Bruder gekocht werden, aber wer weiß, was sie an den anderen Tagen aus dem Fluss gezogen und zubereitet hat? Die Bratklöschen in Tomatensauce zeigten auf, wie kulinarisch wertvoll eine sinnvolle Resteverwertung sein kann, gute Zutaten vorausgesetzt. Der Apfelstrudel mit Vanillesauce und Beerengarnitur stellte unter Beweis, welchen Genuss Küchenhandwerk aus einfachsten Zutaten zaubern kann, während das Kürbis-Mohn Mousse auch den Erwachsenen vor Augen führte, dass kulinarische Bildung mit Geschmackserlebnissen belohnt, die man vorher weder wusste, noch für möglich gehalten hätte.

Kulinarische Bildung für alle Alterststufen, eine märchenhaftes Beispiel, dass Schule machen sollte.

An dieser Stelle sei allen am Projekt Beteiligten ein herzlicher Dank ausgesprochen. Möge das Beispiel an vielen Orten Schule machen.

Die nächsten Veranstaltungen der Reihe Cultgenuss finden am 30.Januar 2019 in Wien und am 05. Juni in Matera statt. Weitere Informationen hier.

 

 

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