Zum Hauptinhalt springen Skip to page footer

Frei schwebende Weine in der Vincaillerie in Köln | © La Vincaillerie

Vin Naturel

Wenn Winzer ihrem Terroir treu sind und Wein unmanipuliert zum Ausdruck bringen.

Reiner Wein und Wahrheit

Wein – ein Wort was in den meisten indogermanischen Sprachen ähnlich klingt – es ist so alt, dass der Ursprung etwa 8000 Jahre zurück liegt. Doch diese „Tartuffel-“Zutat gehört dem naturbelassenen Wein, dem sogenannten „vin naturel“, „vin nature“ oder „vin vivant“ und „natural wine“.

Wein  ist ein alkoholisches Getränk, das aus dem vergorenen Saft von Weintrauben hergestellt wird. Durch spezifische önologische Ausbaumethoden kommt es bei der Lagerung zu zahlreichen biochemischen Reifeprozessen, die eine hohe Komplexität ausbilden und auch dazu führen, dass manche Weine Jahrzehnte lang reifen und haltbar sind.

Dies lediglich als kleine Definition. Im Laufe seiner langen Geschichte hat Wein je nach Zeitalter und Geschmack viele verschiedene Gesichter gezeigt - und anerzogen bekommen. Ob bei den Griechen und Römern, im Mittelalter mit Kräutern vermischt und mit Wasser verdünnt oder wie seit dem 20. Jahrhundert mit synthetischen Mitteln beispielsweise laut EU-Richtlinien versetzt, die Basis bleibt und ist vergorener Traubensaft.
 

Reinen Wein einschenken

„Jemandem reinen Wein einschenken“: Diese Redewendung stammt aus dem Mittelalter, als die Wirte ihren Wein mit diversen Zutaten - wie Schwefel, Essigsäure, Tonerde, Wasser - gestreckt und diese Mischung als Wein verkauften. So konnte der Wirt aus seinem knapp bemessenen Weinvorrat noch mehr Profit herausholen. Nur wenn er, wie er es behauptete, echten Wein eingeschenkte, sagte er die Wahrheit.


Wenn man Ehrlichkeit als ersten Schritt zum Glück bezeichnet, sollten wir uns immer wieder reinen Wein einschenken. Wo gibt es das? Ist nicht jeder Wein, den wir heute kaufen können, reiner vergorener Traubensaft? Viele Weintrinker sind in diesem Glauben. Dem ist aber nicht so. Die Zutatenliste ist bis heute nicht auf der Flasche verzeichnet. Und das hat seine Gründe.

Durch die steigende Nachfrage nach Wein mussten oder wollten die Weinerzeuger ihre Produktivität steigern. Es ging um mehr Menge und ein über die Jahre wiedererkennbares Geschmacksprofil - gleich wie das Wetter, die Ernte oder die Arbeit im Weinberg auch sein mag. Sie durften den Saft gar nicht sich selbst überlassen, um ein wiedererkennbares Resultat zu erzielen. Mit Hilfe der Chemie-Industrie kamen verschiedene Pülverchen auf den Markt, die meisten sind in der EU als Zusatzstoffe für die Weinherstellung zugelassen. Die Produktivität stieg, die Geschmäcker wurden vereinheitlicht. Besondere Hefen bringen selbst matte Trauben auf Rebsortenkurs. Man trinkt Syrah oder Merlot und er schmeckt oft ähnlich, egal aus welcher Region oder aus welchem Jahrgang. Der Verbraucher will es anscheinend so. Aber handelt es sich hierbei tatsächlich um reinen Wein? Kann dieser Wein sein Terroir überhaupt schmecken lassen?

Bei so genannten „großen Weinen“ verhält es sich etwas anders, wie das Beispiel Vosne Romanée-Conti zeigt: sie arbeiten schonender, biodynamisch. Handgelesene Trauben werden auf den eigenen Hefen vergoren, ungefiltert abgefüllt, kleine Erträge, keine Massenproduktion. Diese Winzer schenken fast reinen Wein ein!
 

Vin naturel

In der fast selben Machart gibt es seit über 20 Jahren nun Weine, die so rein wie möglich sein wollen. Das „wie möglich“ richtet sich hier aber nicht nach Ertrag und Profitkurve sondern nach den Vorgaben der Natur. In einer begleitenden und schonenden Vinifikation versuchen Winzer ihrem Terroir treu zu sein und den Wein unmanipuliert zum Ausdruck zu bringen. Sie verzichten auf jegliche Zusatzstoffe und ähneln somit in ihrer Machart den berühmtesten Weinen der Welt. Meist jedoch können sie sogar auf Schwefel verzichten. Reiner kann dann Wein nicht sein! Und wir können uns solchen Wein leisten!

Es geht hier um die sogenannten „vins naturels“, „vin nature“ oder „vins vivants“ und „natural wines“. Die Geister streiten sich immer wieder wegen des Worts „naturel“. Es ist richtig: Wenn man Trauben einfach sich selbst überlässt und sie vergären vor sich hin, ohne dass der Mensch sich einmischt, kann nur schwer ein bekömmlicher Wein entstehen. Wenn der Mensch sich aber als Teil der Natur sieht und die Vergärung begleitet, ohne das Naturprodukt Saft durch Zutaten, Filtrationen oder Schönungen zu verändern, dann kann man von einem naturbelassenen Wein sprechen. 

In Frankreich fängt die Geschichte des „vin naturel“ in den 1970ern an, mit Jules Chauvet. Er war Oenologe und Biochemiker. Er wollte dem Terroir auf den Grund gehen und stellte die damals – wie noch heute - übliche Zufuhr von Reinzuchthefen, Schwefel sowie anderen oenologischen Pülverchen und Verfahren in Frage. Marcel Lapierre aus dem Burgund, Gramenon aus dem Côtes du Rhône und Overnoy aus dem Jura waren die Winzer um Chauvet herum, die die ersten Experimente mit dieser neuen Art der Vinifikation ausprobierten.

Diese Winzer gibt es noch heute, und viele mehr haben sich anstecken lassen. Sie teilten ihre Erfahrungen, lernten umzudenken, das Gelernte aus den Weinanbauschulen umzuformatieren, die Verkaufsstrategien zu ändern, der Natur zu lauschen und wachsam sein. Das Ergebnis ist eine Art Parallel-Welt zur normalen Weinwelt. Viele der Winzer sagen, was sie tun und tun, was sie sagen, obwohl sie die deutsche Redensart gar nicht kennen. Da gibt es keinen schlechten Wein, sondern nur Wein, der einem nicht schmeckt. Sie sind oft als einfache Tafelweine deklariert, weil sie weder das Geld für eine Appélation haben, noch den Sensorik Tests ausgesetzt werden wollen, die nun mal seit Jahren auf der Basis von teilweise aromatisierten Reinzuchthefen funktionieren. Ja, sie schmecken manchmal – nicht immer – anders als herkömmlich hergestellte Weine. Da kann man sich selbst fragen, ob es einem schmeckt und bekommt, oder eben nicht! Jetzt haben wir die reine Wahl!



Autorin: Surk-Ki Schrade

Mehr auf Tartuffel

Anspruchsvoll. Vielversprechend. Vollmundig. Das neue Restaurantkonzept von Nils Henkel überzeugt auf ganzer Linie. Ein außergewöhnliches Konzept, passend zum außergewöhnlichen Spitzenkoch mit dem man im außergewöhnlichen Severins Resort &…

Der gastrosophische Podcast - Heiko Antoniewicz "Umami"

Umami. Was denken wir, wenn wir dieses Wort hören? Es ist – so einfach, wie oft noch nicht gewusst – unser fünfter Geschmack. Neben den geläufigen Geschmäckern süß, salzig, bitter & sauer verfügt unsere Zunge, über das Vermögen Umami zu…

Was ist ein Rhizom? Vor knapp vierzig Jahren gingen der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychoanalytiker Félix Guattari dieser Frage nach und kamen zu einem überraschenden Befund: Das Rhizom ist die wirkliche Metapher der Textproduktion.

Schön. Was hier im geschmackvoll gestalteten Buch vorgestellt wird, ist nichts weniger, als die Aufforderung, sich der japanischen Küche auch im heimischen Alltag zu nähern. Bei Stevan Paul heißt das: Japanische Küche, modern interpretiert…

„Koch dich Türkisch“ ist nicht nur Titel und Programm, es ist zugleich der Verweis auf die Heimat und das ironische Augenzwinkern, welches die Sprache liefert. Nicht umsonst heißt der hauseigene Verlag Doyç. Ein Wort, welches der deutsche…