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Nur scheinbar neues Triptychon: Küche, Ess- und Wohnzimmer. | © Gaggenau, Foto: Bodo Mertoglu

Küche

Die Küche ist Arbeitsplatz des Zivilisationsprozesses

Hitze in zentraler Randlage

Die Küche, sie ist mehr als ein Ort, der funktional, sozial oder historisch zu beschreiben wäre. Die Küche gleicht einem Gedächtnis, das sich heutzutage unter glänzenden, multifunktionalen Oberflächen verbirgt und per Design und Technik davon berichtet, wie der Mensch dem Kochen seine Heimstatt gab.

Allein deshalb ist die Küche auch ein gastrosophischer Tatort, dessen Spuren zu lesen sind. In Anlehnung an den Ethnologen Claude Lévi-Strauss formuliert, ist sie der Ort, an dem zwei prinzipielle Zustände unterschieden werden. In einem seiner bekanntesten Werke, „Das Rohe und das Gekochte“, wendet der Franzose nämlich diese beiden Begriffe an, um die verschiedenen Mythen Nord- und Südamerikas wissenschaftlich zu klassifizieren.

Die Küche ist kein Zimmer - jede Wohnungsanzeige separiert säuberlich die Zimmer von "Küche, Diele, Bad" - sie ist ein Raum. Ein Raum für Tradiertes und Neues, für Zutaten und Gerätschaften, sozial abgrenzend oder zusammenführend - aber immer in Randlage. So zeigt die Küche höflich und zurückhaltend, dass sie nicht den Mittelpunkt des Hauses bilden muss, was doch das existentielle Anliegen seiner Bewohner ist. Zugleich ist sie sich über ihren unbewussten Status im Klaren, denn immer ist sie der Zirkelpunkt, um den sich alles dreht: sei es als einzelner Raum oder - als scheinbar neues räumliches Triptychon - im wandlosen Zusammenschluss mit Ess- und Wohnzimmer.

Die Küche geht aus der Feuer- und Kochstelle hervor. Es ist dieses Feuer, das Ofen und Herd - mittlerweile inklusive High Tech - domestizieren. Bis heute ist daher der wahre Aggregatzustand der Küche die Hitze. Der New Yorker Journalist und freiwillige Küchensklave Bill Buford erlebt daher in der Küche "radikal unterschiedliche Formen des Seins - eine aggressive Direktheit, wenn die Köche mit der Hitze und dem Feuer kämpfen, während hohe Flammen aus ihren Pfannen schlugen, und dann eine geradezu artifizielle Grazie, wenn sie die Teller anrichten."

Sind Hitze und Feuer auch immer währende Gefahr, ohne sie läuft gar nichts in der Küche. Vielmehr gilt es, die Hitze je nach Bedarf einzusetzen, zum Garen und Braten, zum Schmoren und Flambieren oder auch nur zum Warmhalten der Speisen und zum Vorwärmen der Teller. Dabei mag der Eindruck entstehen, dass die Küche selbst ein Kochgeschirr ist. In diesem Sinne beschreibt Antonin Carême, knapp 200 Jahre vor Buford im frühen 19. Jahrhundert seinen Arbeitsplatz: "Stellen Sie sich eine Küche während eines großen Dinners vor. Sehen Sie zwanzig Chefköche in einem gewaltigen Hitzekessel kommen und gehen."
 

In Teufels Küche

Als die Kochstelle mit Fortschreiten der Zivilisation vom Wohnen separiert wird und nicht mehr zentral in der einräumigen Höhle oder Hütte stattfindet, ist dies eben auch der Hitze und dem Rauch geschuldet. Noch heute kann man in manchen Hütten und Wohnorten die offene Feuerstelle bewundern und lernt schnell, weshalb es die Bewohner zu Kochzeiten ins Freie zieht. Und in der Tat, unser Glaube, wir hätten die offene Feuerstelle schon lange hinter uns gelassen ist, erscheint im Licht der offenen Flamme auch eher als ein Mythos denn als historische Realität. Ein Mythos, den wir lieben und dem wir in der Freiluftsaison unbewusst archetypisch am Grill frönen. An diesen Tagen wandert die Küche wieder kurzzeitig vor das Haus.

Was wir uns heute kaum noch vorstellen können: die offene Flamme blieb in vielen Wohnungen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein der Normalfall. In dieser Zeit wurde die Flamme des Holzes oder der Kohle durch die des Gases abgelöst, bis man sich entscheiden konnte, ob man vollständig auf die offene Flamme verzichtete, da mittlerweile die Elektroherde erschwinglich waren.
Davon unberührt ist die Küche von Beginn an ein gefahrenvoller Ort und die englische Redensart "If you can't stand the heat, get out of the kitchen" bezeichnet konkret die bewusste Inkaufnahme einer risikoreichen Situation. Wer hier nicht Acht gibt, gerät in Teufels Küche.
 

Von der Dichotomie und wieder zurück

No risk, no fun - aber das Risiko sollen bitte andere tragen. Der Auslagerung der Küche an den Rand oder vor das Haus folgt die Besetzung derselben mit Sklaven, Leibeigenen, später Hausangestellten und darunter - deutlich privilegiert - mit dem Koch, dem sprachlichen Namenstifter der Küche. Diese Arbeitsteilung von Kochen und Essen geht einher mit der Spezialisierung und Differenzierung der Akteure - Experten am Herd die einen, Experten zu Tisch die anderen. Eine Dichotomie, die in diesen Tagen noch im Verhältnis von Koch und Kritiker widerscheint. In diese Epoche fallen auch die Einführung des Essbestecks, die Entwicklung neuer Darreichungsformen der Kost, die Kreation neuer Gerichte aus den nun zerkleinert zubereiteten "Speisetieren".

Bemerkenswert ist ein weiteres soziologisches Triptychon: In dem Moment, in welchem der Elektroherd in die modernen Mietskasernen Einzug hält, schafft es auch der Kühlschrank, so klein zu werden, dass er transportabel und bezahlbar wird. Bald schon ist er unverzichtbares Element der Küche, ein gemütlich summendes Symbol des Fortschritts. Womit sich der Kühlschrank füllt? Mit den Dingen, die im Fernseher, der zeitgleich die Wohnstätten erobert und dem zu Ehren die Küche von der guten Stube getrennt wird, beworben werden. Eine Raumtrennung die – unter Beibehaltung der technischen Geräte – in den vergangen Jahren wieder ihre Aufhebung erlebt. Mit der Küche, dem Ess- und dem Wohnzimmer werden die zentralen Räume des Heims wieder zusammengefügt und für alle Bewohner gemeinsam zugänglich. Strukturell betrachtet ist das wieder nahe an der steinzeitlichen Höhle mit Feuerstelle.

In der Küche, so könnte man mit dem Soziologen Norbert Elias formulieren, arbeitet der Mensch von Anfang an auch an seinem persönlichen Zivilisationsprozess. Bis heute - ob in der Großküche, der Wohnküche oder als Häuptling am eigenen Herd.
 

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