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Die Szenerie des Buches trägt eine Verheißung in sich | von Kalamazadkhan (Eigenes Werk) [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons

Robinson Crusoe

Der Roman wurde zum abenteuerlustigen Jugendbuch verkürzt und von Rousseau als wahre Erziehungslehre zur Menschlichkeit geadelt. Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ erfüllt uns auch heute noch mit Sehnsucht und liefert unvermutet Lehrreiches gleich mit.

„Robinson Crusoe“ macht Freitag zum gastrosophischen Kronzeugen

  Je älter man wird, desto sorgsamer sollte man sich seine Lektüre auswählen – und das, was man isst und trinkt. Es ist die Ökonomie der Aufmerksamkeit, die genauer fragt, was man seinen Sinnen und seinem Verstand zuführt. Das klingt melancholisch, hat aber seine ernste Richtigkeit. Umso gewissenhafter ist mit Leseempfehlungen umzugehen, doch hier folgt eine von ganzem gastrosophischen Herzen.

Die Szenerie des Buches trägt eine Verheißung in sich, die in den Tagen von Burnout und Informationsbulemie einen eigenen, gegenwärtigen Reiz entwickelt. Der Ort ist eigentlich ein Idyll. Eine einsame Insel vor der Küste Brasiliens gelegen, umsäumt von weißem Sandstrand und gesegnet mit üppiger Vegetation: eine Anspielung auf das Paradies, die ein Leser bereits vor knapp dreihundert Jahren verstand – dabei war es damals schon verloren.

Zivilisatorisches Starter-Set: erst kommt das Essen dann die Moral

Damals, das ist 1719, und Daniel Defoe zählt fast 60 Jahre, als er seinen „Robinson Crusoe“ veröffentlicht. Defoe weiß aus eigener Lebenserfahrung wie sich Bankrott und Gefängnis anfühlen, er hat als Agent und Journalist die Ränkespiele der Politik beobachtet und erlitten. Er wird zum Zeugen des Wandels der Gesellschaft, des Beginns der Industrialisierung in Großbritannien und des Einsperrens der Menschen in feste Arbeitszeiten und armselige Lohnarbeit. Es ist diese historische Einordnung, die Karl Marx später urteilen lässt, der „Robinson Crusoe“ und alle folgenden Robinsonaden seien „Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem 16. Jahrhundert neu entwickelten Produktivkräfte“. Doch das Buch hält eine Lesart bereit, die sich dem Blick von Nationalökonomen entzieht. Darin geht es um das Essen als zivilisatorische Praxis und kulturelle Leistung, die Mensch und Gesellschaft prägt, und die sowohl der Ethik als auch der Moral vorhergeht.

Am Anfang steht das Paradies, das keines ist. Ein Schiffsbruch wirft Robinson Crusoe als einzigen Überlebenden auf das namenlose Eiland. Doch Crusoe sieht nicht das Idyll sondern fürchtet die Natur mit ihren unbekannten Kreaturen und der undurchdringlich scheinenden Vegetation. Erst später wandelt sich die Wildnis in einen Garten Eden mit einem autark sich ernährenden Crusoe. Vorerst gewährleistet nur die zivilisatorische Grundausstattung, die er aus dem angeschwemmten Schiffswrack rettet, das Überleben. Zu den Dingen, die Crusoe bei der Kultivierung mit auf den einsamen Weg bekommt, zählen „Brot, Reis, drei Holländer Käse, fünf Stück getrocknetes Ziegenfleisch“, etwas Gersten- und Weizenkorn sowie „feinen Likör“ und einige „Gallonen Arrak“. Mit weiteren Fahrten zum Wrack schafft Robinson noch Brot, Rum, Zucker und Feinmehl auf die paradiesische Insel. Doch der Proviant des Starter-Sets reicht für die ersten Tage, vielleicht Wochen, dann aber wäre der Naturzustand wiederhergestellt. Robinson erschließt sich nun sein Paradies – notgedrungen – und durchläuft dabei eine Evolution, die den Zivilisationsprozess des Menschen in nuce reflektiert. Das ist das versteckte gastrosophische Abenteuer des Robinson Crusoe.

Diesseits von Eden

Zu Beginn ernährt sich Robinson Crusoe als Jäger und Sammler. Das Inselmenü dieser Phase kombiniert Schildkröteneier, wilde Ziegen und die süßen Rosinen von wildem Wein. Es wird über dem Feuer gebraten oder in der Asche gegart – ein Topf fehlt. Der weitere Zivilisationsprozess verdankt sich dem Zufall und der Vernunft gleichermaßen. Aus achtlos weggeworfenen Getreidekörnern wächst die erste kleine, aber zukunftsweisende Ernte. Durch die Domestizierung der Ziegen macht der Inselbewohner den Schritt in die Tierhaltung. Es stehen nun mehr Lebensmittel zur Verfügung als er benötigt, so dass Robinson Zeit für die Verfeinerung von Voratshaltung und Zubereitung findet.

Brot wird gebacken, Milch kommt auf die Speiseliste und in der Folge auch Käse. Der gastrosophische Adam töpfert sich Krüge und den ersten Topf. Später liefert ihm ein weiteres angetriebenes Wrack das ersehnte Kochgeschirr. „Auch eine Feuerschaufel und eine Zange, die ich sehr nötig brauchte, nahm ich an mich, ferner zwei kleine Messingkessel, ein Kupfergefäß zum Schokoladekochen und einen Bratrost.“ Robinson Crusoe ist nun Selbstversorger, der die Ressourcen der Insel zur Ernährung nutzt. Jetzt bestellt er den Garten Eden mit Getreide und Wein, hütet in der gewandelten Wildnis seine Ziegenherden. Sonstige Reichtümer spielen keine Rolle. Der Zivilisationsprozess ist soweit vorangeschritten, dass nun die Probe aufs Exempel ansteht. Wie überzeugt diese Kultur den Fremden, den Anderen, den kulturlosen Wilden?

Eine gastrosophische Bekehrung

Freitag wird zum eigentlichen Probierstein, wie Kant es nennt, dieser Zivilisation. Er entscheidet, ob sie überzeugt, und er tut dies im besten gastrosophischen Sinne – zunächst mit den Sinnen und dann mit dem Verstand. Paradoxerweise muss nämlich Robinson Crusoe zum Koch werden, um den Wilden Freitag von seinem Kannibalismus abzubringen. Christliche Moral und Ethik, die Glaubensfrage geben den wortreichen Hintergrund hierfür ab, allein die Bekehrung erfolgt beim und durch dass Essen.

Zunächst schlachtet Robinson Crusoe ein Ziegenkitz, und setzt Freitag die erste Zubereitung vor: „In einem passenden Topf sott ich etwas von dem Fleisch und bereitete eine ausgezeichnete Brühe.“ Am folgenden Tag legt er noch einen drauf und brät das Fleisch über dem offenen Feuer. Die Kostprobe dieses Gerichts lässt Freitag letztlich vom Kannibalismus abschwören. „Und als er von dem Fleisch gekostet hatte, deutete er mir mit einem solchen Wortschwall an, wie gut es ihm geschmeckt habe, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Schließlich beteuerte er mir, nie mehr Menschenfleisch essen zu wollen, was mich mit großer Freude erfüllte.“

Aus gastrosophischer Sicht ist dies die Schlüsselszene des Romans. Was folgt ist die Geschichte der Kolonisierung der Insel, der Rückkehr Robinson Crusoes nach England und weitere Reisen nach Asien und Russland. Das mag Karl Marx in die Karten spielen oder auch dem Defoe Zeitgenossen John Locke und seiner Philosophie des Empirismus. Im Roman und in der Menschheitsgeschichte geht die gastrosophische Verfeinerung der Ökonomisierung voraus. Als Robinson Crusoe die Insel zum Garten Eden kultiviert hat, ist sein Gold und Geld nichts wert. „Himmel, da lag nun das widerliche, traurige, unnütze Zeug!“

Gerbrauch davon machen

Seine demutsvolle Botschaft aus diesem vor-ökonomischen Zustand, ist es denn auch, was in unserem fraktalisierten Alltag und der segmentierten Arbeitswirklichkeit so sehnsuchtsvoll aufhorchen lässt: „Mit einem Wort, Naturbeobachtung und Erfahrung lehrten mich, wenn ich es genau bedenke, daß alle Güter dieser Welt nur insofern Wert für uns haben, als wir Gebrauch davon machen können, und was wir auch an Schätzen um uns anhäufen, es kommt wirklich nur anderen zugute, wir selbst haben bloß an dem Genuß und Freude, was wir selbst verbrauchen können, und an weiter nichts.“

Es gibt keinen Anlass, das Buch zu empfehlen, kein Jubiläum oder Gedenktag, der es in die Feuilletons tragen würde, außer den einen entscheidenden, dass es eben ein empfehlenswerter Roman ist, der endlich von gastrosophischen Lesern entdeckt werden will. Wem das zu wenig ist, der halte sich an Jean-Jaques Rousseau: „Dieses Buch wird zum Prüfstein unseres Urteils werden, und solange unser Geschmack nicht verdorben ist, wird es uns immer Vergnügen bereiten“.

 

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