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Proust Comic

In seiner Comic-Adaption von Proust Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beweist Stéphane Heuet nicht nur große Kennerschaft des Romans – er übersetzt die Imaginationen Prousts in stimmungsvolle Bilder einer vergangenen Zeit.

Wie ein Comic hilft, der Weltliteratur nachzuspüren

Aus Marcel Proust hätte sicherlich ein sehr großer Schriftsteller und außergewöhnlicher Literat werden können. Wenn der Mann doch nur einen richtig guten Appetit gehabt hätte.

 

Bedenkt man, welche literarischen Leistungen er lediglich auf Grund des Genusses eines kleinen Stücks Gebäcks – einer Madeleine – zu vollbringen im Stande war, ist der Menschheit sicherlich ein großes Stück Literatur vorenthalten worden. Man muss sich nur vorstellen, was Proust nach dem Genuss eines ausschweifenden Menüs alles hätte zu Papier bringen können.

Doch lassen wir die Scherze. Marcel Proust beschreibt sehr eindrücklich, wie ihn der Geschmack eines in Tee getauchten Gebäcks unmittelbar und ganz überraschend an Erlebnisse seiner Kindheit erinnert. „Die verlorene Zeit“ ist die Zeit, die er nur noch mittels seiner Erinnerung heraufbeschwören kann. Es gibt keinerlei Sicherheit außer seiner subjektiven Imagination. Neben dem Portrait der Gesellschaft der Belle Époque beschreibt Proust hier die Funktionen des Gedächtnisses, die ungewisse Gewissheit der eigenen Biographie und hat damit eines der wichtigsten literarischen Werke des vergangenen Jahrhunderts geschrieben. Für ihn selber war es ein Lebenswerk. Er schrieb an den sieben Bänden von 1908 bis 1922, der letzte Band wurde erst fünf Jahre nach seinem Tod veröffentlicht.

Bilder imaginieren

Es ist ein alter Streit, ob man einen Roman in Bilder fassen kann. Schon lange nicht mehr entzündet sich diese Debatte jedoch an Spielfilmen, zu sehr bestimmen diese unsere Sehgewohnheiten, zu selbstverständlich werden erfolgreiche Romane verfilmt. Doch noch immer gibt es – zumindest hier zu Lande – eine kulturkonservative Debatte darüber, ob man Weltliteratur in ein Comicformat pressen darf. Geht bei einer solchen Bebilderung nicht zu viel von der Phantasie des Lesers verloren, weil er sich die Bilder, welche der geschriebene Text in ihm erzeugt, nicht mehr selber ausmalen kann, sondern sie schon mittels des Mediums Comic vorgezeichnet bekommt?

Tragendes Element dieses Romans ist die Erinnerung an die Kindheit. Nun möchte ich meinem Kind erklären, was ich lese, wenn ich Proust lese. Ich erkläre es ihr, ich lese ihr vor. Aber sie versteht die Worte noch nicht in ihrem Zusammenhang, die Sätze sind ihr zu lang. Für viele Anspielungen fehlen ihr schlicht die Bilder. Sie hat noch keine Vorstellung davon, wie die Gesellschaft vor hundert Jahren ausgesehen hat. Wie sich die Leute kleideten, welchen Charakter ein Grand Hotel ausstrahlte. Schaue ich mit ihr in diesen Comic-Band, bekommt sie sofort einen Zugang zur Geschichte. Zwar kann sie mit einzelnen Worten immer noch nichts anfangen, aber diese Stellen bilden lediglich Lücken in einer Geschichte, die sie jetzt begreifen, erfassen, nacherzählen kann. An dieser Stelle leistet der Comic mehr, als der Roman sich zutrauen darf. Damit möchte ich nicht sagen, dass diese Comicadaption einfach nur eine für Kinder ist. Denn erst durch deren Bilder, werden Erinnerungen an den Roman in mir wach, die ich lange nicht präsent hatte. Langsam denke ich über die ersten Lektüreerfahrungen nach, und wie sich die Eindrücke im Laufe der Jahre verändert haben.

Sprachbilder

Stéphane Heuet, der sich der Aufgabe gestellt hat, diesen riesigen Roman in Comicform zu übertragen, begann seine Arbeit 1998. Schon jetzt, nach 13 Jahren kann man also sagen, dass er sein Vorbild Proust – gemessen an den Jahren der Arbeit – übertreffen wird. Und die Adaption ist noch lange nicht abgeschlossen.

Heuet gelingt das Kunststück, eine eigene Bildersprache für seinen Proust zu entwerfen. Dabei mischt er zentrale Aussagen des Buches aus Bild- und Schriftsprache zusammen und kommt so dem Klang der Proustschen Prosa verblüffend nahe. Wo Proust über Seiten eine Empfindung beschreibt oder eine Landschaft auferstehen lässt, entwickelt Heuet seine „Sprachbilder“, die in einer einzigen Zeichnung Prousts Prosa verdichten. Schweigen die Figuren im Roman, so malt Heuet Landschaften, um beim Leser eine eigene, neue Assoziation hervorzurufen.

Die Stimmung des Romans wird durch die dichte Komposition der Bilder erzeugt, die nur scheinbar wie Bilder für Kinder wirken. Auch hier wird dem Leser etwas Entscheidendes nicht abgenommen: Obgleich er fertige Bilder präsentiert bekommt, erzeugt die Verzahnung von Text und Bild keinen hermetischen Horizont. Die Imagination des Lesers wird auch hier gefordert - und herausgefordert. Man verweilt bei den einzelnen Bildern, um sich die nächsten Sekunden oder Stunden vorzustellen.

Was passiert zeitlich hinter der Geschichte, die das Bild kurz festhält? Welche Geräusche kann man hören, wenn der Junge seine Tante Leonie besucht? Der Geruch des Tees und des Gebäcks, mischt er sich mit den Gerüchen des Sommers am Meer? Schon blättern wir zurück und erkennen, dass es kein Zufall ist, dass diese erste überwältigende Erinnerung zu einem Zeitpunkt eintritt, als der erwachsene Mann sich mit dem Tee gegen die eisige Kälte des Winters wappnen möchte.

Was Stéphane Heuet hier vorgelegt hat, ist nicht nur eine großartige Adaption eines großartigen Werkes, es ist das pure Lesevergnügen. Denn schließlich verlangen auch die Bilder genaueste Lektüre.

Haben Sie Appetit auf gewichtige Weltliteratur in einer modernen Interpretation bekommen? Dann bereiten Sie sich ihren Lieblingstee zu, gönnen Sie sich ein Stück Gebäck ihrer Wahl und lesen Sie diese wunderbare Graphic-Novel. Wenn Sie nun auf den Geschmack gekommen sind, brauchen sie keinen kalten Entzug zu fürchten. Bisher sind drei Bände in deutscher Übersetzung erschienen, der nächste Band ist für das kommende Frühjahr geplant. Stephane Heuet selbst hat sein Projekt Proust in Bildform zu adaptieren auf insgesamt 16 Bände angelegt. Für ein reichhaltiges Proust-Menu in den kommenden Jahren ist also gesorgt.

Ich vergaß: Sollten Sie Kinder haben, lesen sie diese Bände mit ihnen zusammen, sie werden überrascht sein, welche Erinnerungsbilder im Gespräch über die Bilder zum Vorschein treten.

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Bücher: Heimat am Herd

Zutaten: Phantasie

Zutaten: Comic

Köpfe: Marcel Proust

Linktipps:

Stéphane Heuet: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: Combray. Eine Graphic-Novel. Knesebeck Verlag München

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