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Textliche Fermentationsprozesse - In Zeilen geformte Zeit

Zeit

Literatur und die zeitlose Realität der Erinnerung

Auf der Suche nach der Verflossenen

Natürlich. Zu Zeit fällt einem sofort Relativität ein. Denn ohne Einstein wäre unser Zeitbewusstsein nicht das, was es ist. Wir sind gewohnt zwischen Frei- und Arbeitszeit fein säuberlich zu unterscheiden und haben gelernt, dass uns rückblickend Jahre wie Sekunden vorkommen können. Und natürlich wissen wir, dass die Gegenwart nur der verschwindende Vermittler der Zukunft in Vergangenheit ist, auch wenn wir uns dies selten vergegenwärtigen. Unabhängig von dieser im Unbewussten schlummernden Erkenntnis sprechen wir oft davon, dass die Zeit nur so an uns vorbeirauscht.

Aber Zeit als gastrosophische Zutat? Natürlich! Denn ohne Zeit kein Genuss und keine Gastrosophie. So wahr es ist, dass wir überwältigenden Genuss lange erinnern und dabei sehr oft die begleitenden Umstände, wie Jahreszeit, Wetter, sowie Details des jeweiligen Ortes, oder der anwesenden Personen für immer in unserem Gedächtnis abgespeichert haben, müssen wir die Zeit als feste Größe mitdenken, auch wenn sie stets eine Variable darstellt, relativ verstanden. 

Und es ist eines der Kernanliegen der Gastrosophie, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, sich also nicht an den Wegrand zu stellen, um zu sehen, wie sich Zukunft in Vergangenheit verwandelt, sondern, um die Gesetze der Zeit für einen Augenblick – also für lang gefühlte Momente – subjektiv aus den Angeln zu heben.

Sinnes- und Verstandeseindrücke

Marcel Proust war es, der sinnliche Eindrücke als Ausgangspunkt nimmt, um – wie in einer lange vorbereiteten Versuchsanordnung – zu zeigen, wie Literatur funktioniert, indem sie die Zeit als Spiel der Darstellung begreift. Immerhin kostete ihn dieses Unterfangen einen beträchtlichen Teil seiner Lebenszeit und als er gewahr wurde, dass er die wesentlichen Dinge zum Ausdruck gebracht hatte, konnte er sterben, bevor sein Werk der „Suche nach der verlorenen Zeit“, immerhin am Ende 7 Bände und einige tausend Seiten Spiel mit Zeit als neue Form von Literatur, vollständig abgeschlossen war. Bemerkenswert für einen Autor, der Zeit seines Lebens dafür mehr gefürchtet und berüchtigt war, letzte Hand an seine Manuskripte zu legen, um sie dabei regelmäßig derart gründlich zu überarbeiten, dass doch ein gänzlich anderer Text zum Vorschein kam.

Die wiedergefundene Zeit

Und es ist gewiss kein Zufall – Proust wusste ja um die Erkenntnisse Einsteins -, dass der Autor im abschließenden 7. Band mit dem bezeichnenden Titel „Die wiedergefundene Zeit“, seinen Lesern endlich die Erkenntnis anvertraut, dass das einzige Element, in dem man leben und die Essenz der Dinge genießen kann, außerhalb der Zeit liegt. „Dies war die Erklärung dafür, dass meine Besorgnis wegen meines Todes in dem Augenblick geendet hatte, in dem ich unbewusst den Geschmack der Madeleine wiedererkannt hatte, denn das Wesen, das ich in jenem Augenblick gewesen war, war ein außerzeitliches Wesen und folglich unbesorgt um die Wechselfälle der Zukunft.“

Natürlich lauschen wir hier dem Literaten Proust, oder wenn man so möchte dem Erzähler Marcel, in Wirklichkeit nämlich handelte es sich beim realen Gebäck des Anstoßes keineswegs um eine Madeleine, ja noch nicht einmal um ein reales Gebäck, welches Proust genüsslich verspeiste und dabei Zeit und sogar Raum um sich vergaß, sondern – passend zur Literatur – war er bei einer flüchtigen Studie, wenn man so möchte einem entscheidenden Augenblick, auf etwas gestoßen, was ihn nicht nur lange beschäftigen, sondern literarisch fesseln und Zeit seines Lebens nicht mehr loslassen sollte. Es handelt sich hierbei um ein gegrilltes Brot, welches er in Erinnerung an Wagners Zwieback in seinen Tee taucht.

Wagners Zwieback

Mathilde Wesendonck hatte Richard Wagner Zwieback zugesendet, welches ihn nach seinen Worten – denn durch seinen an die Absenderin des Zwiebacks adressierten Brief vom 9.Mai 1859 wissen wir und weiß vermutlich Proust von diesem Vorfall – dazu verhalf, eine Schaffenskrise zu überwinden. Diese 1905 ins Französische übersetzten Briefe, könnten für Proust, der zu dieser Zeit fundamental an seinen literarischen Fähigkeiten zweifelte – „Alles, was ich tue, ist keine wirkliche Arbeit, sondern nur Dokumentation, Übersetzung usw.“ – Ansporn zur Überwindung einer Schaffenskrise gewesen sein, wie auch das Motiv des in Tee getränkten Gebäcks evoziert durch Andersons Märchen „Die Teekanne“, in welchem die Teekanne zunächst über ihre Mängel und ihre Bescheidenheit philosophiert, um zugleich davon zu reden, dass sie die Geberin ist. „In meinem Inneren werden die chinesischen Blätter in dem kochenden, geschmacklosen Wasser verarbeitet.“ Nachdem sie zu beschädigt wurde, konnte sie eine Zwiebel in ihrem Inneren zum Leben erwecken, an deren Schönheit sich alle Menschen erfreuten. „Ich war so froh darüber, wie sehr hätte sie es erst sein müssen“, so die Teekanne weiter „Eines Tages hörte ich, wie man sagte, sie verdiene einen besseren Topf. Man schlug mich mitten entzwei, das tat entsetzlich weh; aber die Blume kam in einen besseren Topf und ich wurde auf den Hof hinausgeworfen, liege da als ein alter Scherben – aber ich habe die Erinnerung, die kann mir niemand nehmen.“

Zeitgleich: Gegenwart,  Empfindung und Erinnerung

Mithin entscheidend ist letztendlich nicht, was genau gegessen wird – ob real oder als Lektürehappen - sondern die Erinnerung an den betörenden Geschmack, der auch nach Jahrzehnten die Zeit außer Kraft setzt und die Literatur bewegt. Denn Literatur versteht Proust als „Erinnerung des Gefühls“, während der Verstand lediglich eine sezierende Erinnerung zu liefern versteht, zeitlich fest eingebunden.

Doch Zeit wird hier nicht nur literarisch beschrieben. Proust erkannte in den Strömen der Erinnerung, die wahren Informationen der Sinneseindrücke und – ganz wie Einstein – suchte er nach Darstellung des Gleichzeitigen, welches wir im Alltag immer nur als ein Nacheinander auffassen, ganz zu Unrecht, wie diese folgende Passage, die wirkt wie eine literarisch geschulte Einführung in die Gastrosophie zeigt:

„Der Geschmack des morgendlichen Milchkaffees bringt uns jene vage Hoffnung auf schönes Wetter, die uns früher, während wir ihn aus einer Schale von cremig-weißem, plissierten Porzellan tranken, das geronnener Milch glich, so oft, wenn der Tag noch unberührt und prall war, in der klaren Ungewissheit des frühen Morgens zuzulächeln begann. Eine Stunde ist nicht einfach nur eine Stunde, sie ist ein Gefäß voller Düfte, Klänge, Pläne und Atmosphären. Was wir die Wirklichkeit nennen, besteht in einer bestimmten Beziehung zwischen uns zu gleicher Zeit umgebenden Empfindungen und Erinnerungen – eine Beziehung, die von einer schlicht kinematografischen Sichtweise unterdrückt wird, die sich damit umso weiter vom Wahren entfernt, als sie sich darauf zu beschränken vorgibt -, eine einzigartige Beziehung, die der Schriftsteller wiederfinden muss, um die beiden unterschiedlichen Begriffe in seinem Satz auf Ewig aneinanderzuketten.“

Da behaupte noch einer, Literatur vermöge nicht, die Sicht auf die Dinge zu schärfen, im Gegenteil, es ist der Alltag mit seinen Postulaten an nützlichen Erfordernissen, der uns die Zeit so schnelllebig wie eintönig erscheinen lässt. Die Zeit aus diesem engen Flussbett zu ziehen, welches sie völlig geräuschlos in einen rauschenden Fluss verwandelt, ist Aufgabe von Literatur und Gastrosophie, um zeitlosen Genuss überhaupt zu ermöglichen.

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