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"Porträt der Familie van Berchem" | Quelle Frans Floris (1519/1520–1570) [Public domain], via Wikimedia Commons

Das Ohr isst mit!

Essen und Trinken ist mehr als die reine Aufnahme von Nahrung zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels. Verschiedene Kulturtechniken machen aus der Notwendigkeit der  Ernährung ein spannendes, komplexes Esserlebnis, das Gemeinschaft stiftet und alle Sinne stimuliert – auch den akustischen.

Überlegungen zu den akustischen Strukturen des Essens

„Das Auge isst mit“ ist eine altbekannte Einsicht. Zunehmend anerkannt ist auch, dass sich kulinarischer Geschmack nicht nur durch die Empfindungen von Mund und Nase entfaltet, sondern sich auch durch sinnliche Aspekte der taktilen Wahrnehmung beim Betasten von Zutaten oder Speisen weiter steigern lässt. Doch bezüglich des Akustischen scheint noch oftmals die Devise zu gelten: Das geht zum einen Ohr rein und zum anderen sofort wieder raus.

Dem ist mitnichten so. Geräusche, Töne und Melodien werden ebenso mitgeschmeckt und müssen ebenso mitverdaut werden, wie alle anderen sinnlichen Einflüsse beim Essen und Trinken. Bekannt ist, dass auf die richtige Art gezielt eingesetzte musikalische Impulse selbst da den Appetit beim Essen steigern können, wo das soziale Setting dem kulinarischen Vergnügen sonst eher wenig dienlich ist, etwa bei Mahlzeiten in Krankhäusern oder Pflegeheimen. Der Einsatz von Musik geht hier über den Aspekt von zerstreuendem Geplänkel hinaus. Stattdessen sind sie funktionale Komponenten eines gelingenden, guten Essens.

Und auch in der Spitzengastronomie gibt es Beispiele, welche die sinnlichen Vorzüge von Musik und Kulinaristik fruchtbar miteinander zu verbinden wissen. So serviert Heston Blumenthal seinen Gästen das Gericht „Sound of the Sea“ zusammen mit einem iPod für die Ohren. Die Essenden können Meeresrauschen hören, während sie Muscheln verzehren. Die Musik, so Blumenthals Anspruch, hat dabei einen direkten Effekt auf die gustatorische Wahrnehmung, da sich durch die akustische Komponente der salzige Geschmackseindruck verstärken soll. Neben solchen Gerichten, die Töne und Geräusche einbinden, gibt es kulinarisch beeinflusste Musik. 2008 hat Bruno Mantovani „Lelivre des illusions“ (hommage à Ferran Adrià) komponiert, inspiriert von den Kreationen des el Bulli. Auf andere Weise verbanden ganz aktuell die Roca Brüder des „El Celler de can Roca“ Musik mit Essen: Sie haben eine multisensorische Oper entwickelt. „El Somni“ geht über Musik und Kulinarik hinaus und wird zum Gesamtkunstwerk, das verschiedenste Künste verbindet. Das Gemüseorchester wiederum setzt die Analogie von Musik und Küche sehr direkt um und spielt auf aus Gemüse angefertigten Instrumenten.

Analogien zwischen Musik und Essen sieht auch Peter Kubelka, der die Organisation der Küche mit der des Dirigenten vergleicht. Hier wie dort müssen einzelne „Stimmen“ zu einem ganzen koordiniert werden. Beim Esser selbst beschreibt er die Wahrnehmung als polyphon, wenn man Kartoffeln mit Butter isst, ein Kartoffelpüree nennt Kubelka hingegen ein homophones Esserlebnis.

Die Beschäftigung mit Geräuschen, Tönen und Melodien lohnt sich für die gastrosophische Theorie, da man ein erweitertes Verständnis für die ebenso sinnliche wie spezifisch kulturelle Komplexität der Esspraxis erhält. Dafür kann man ruhig einen Blick auf die Nachbardisziplin der Musiktheorie werfen. Theodor W. Adorno beispielswiese hat zwar die Kulinaristik nicht richtig zu schätzen gewusst, war aber ein leidenschaftlicher und intelligibler Hörer von – explizit „ernster“ – Musik. In seiner „Einleitung in die Musiksoziologie“  beschrieb er verschiedene Hörertypen von Musik, denen er bestimmte Eigenschaften in der Auseinandersetzung mit Musik zurechnete. Und ohne Adorno zu nahe treten zu wollen: Man kann Musik vielleicht doch mit dem Kulinarischen vergleichen – selbst wenn es sich zunächst um Unvergleichliches handeln mag. Gerade in der Fruchtbarmachung einer solchen paradoxen Analyse, also des Vergleichs des Unvergleichlichen, lässt sich eine reflexive, kulinaristische Kulturtheorie entwickeln.

Denn bei aller Verschiedenheit, es gibt einige Gesichtspunkte, die sich für Vergleiche anbieten. Zum einen etwa die sinnlichen wie vergemeinschaftenden Aspekten der Phänomene. Zum anderen verbindet Musik und Küche, dass bei jeder guten Speise wie auch jedem guten Musikstück ein zur Perfektion strebendes Handwerk zugrunde liegt. Ambitionierte Köche und Musikerbringen neben einem künstlerisch-kreativen Talent stets die Bereitschaft zum weiterentwickelnden Lernen und Üben mit. Auf der anderen Seite finden sich Analogien bei den Rezipienten, den Essenden und den Zuhörenden. Ob jemand ein Gericht nur mit einem sensationslüsternen Unterhaltungsgeschmack verzehrt oder als gastrosophisch sensibilisierter Esser strukturell isst und gustatorische Bestandteile wie eine Sprache decodiert sowie deren technische Kategorien zu enthüllen vermag, darf durchaus mit der ernsten Rezeption von Musik verglichen werden. In dieser Lesart ist der Gourmet das kulinarische Äquivalent des strukturellen Hörers. Das heißt, dass er nicht nur latent  mithört und so nebenbei akustisch verdaut, was er isst. Sondern, dass er dem Ohr beim Essen die reflexive Aufmerksamkeit widmet, die es als vollwertiges Sinnesorgan beim speisen verdient.

Über die Autoren

Daniel Kofahl ist Soziologe beim Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur (APEK) und lehrt u.a. Ökologische Ernährungskultur an der Universität Kassel. Er forscht u.a. zur Komplexität des Kulinarischen sowie zu Theorien des Genusses.
 
Felix Bröcker ist Koch und studiert in Frankfurt Curatorial Studies. Dabei geht er der Bedeutung von Kochen und Essen im Kunstkontext nach. Darüberhinaus ist er an verschiedenen Projekten zum Thema Essen und Kochen beteiligt

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