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Ausschnitt des Buchcovers: Oblomow | © Carl Hanser Verlag

Oblomow

Passend zum 200. Geburtstag von Iwan Gontscharow in diesem Jahr legt der Carl Hanser Verlag eine neue, verblüffend frische Übersetzung von Vera Bischitzky vor. Ein Grund sich der Oblomowerei aus gastrosophischer Sicht zu nähern.

Über die Unfähigkeit zu handeln

Verum factum est. Wir sind das, was wir tun und nur das, was wir erschaffen, können wir als Wahrheit erkennen. Vielleicht war es dieses Postulat von Giambattista Vico, welches Iwan Gontscharow dazu inspirierte, mit Oblomow einen Romanhelden des Unwahren zu entwerfen. Durch das Unwahre seines Helden stiftete der Autor seine eigene Wahrheit und errichtete dem russischen Landadel ein fragwürdiges Denkmal.

Zu Beginn des Romans liegt Oblomow im Bett und Gontscharow ergreift die Gelegenheit, diesen schlafenden Menschen seinen Lesern zu beschreiben: "Es war ein Mann von zweiunddreißig, dreiunddreißig Jahren, mittelgroß und von angenehmem Äußeren, er hatte dunkelgraue Augen, seinen Gesichtszügen aber fehlte jede bestimmte geistige Kraft und auch jede Konzentration. Frei wie die Vögel spazierten die Gedanken über sein Gesicht, sie flatterten in den Augen, setzten sich auf die halb geöffneten Lippen, versteckten sich in den Stirnfalten und verschwanden schließlich ganz, dann leuchtete das Gesicht in einem warmen, gleichbleibenden Licht der Sorglosigkeit. Vom Gesicht ging die Sorglosigkeit in die Posen des ganzen Körpers über und sogar in die Falten des Schlafrocks."

Seinen Dienst als Beamter hat Oblomow quittiert. Als Landadeliger verfügt er über das Privileg, nichts für seinen Lebensunterhalt tun zu müssen und eben dieses Nichts wird den Kern seines Charakters, der „Oblomowerei“ ausmachen: Er verfeinert die Kunst des Aufschiebens, des unproduktiven und damit anstrengenden Müßiggangs. Denn Oblomow, obwohl gebildet, verschiebt alle seine geplanten Aufgaben, Reisen und Anstrengungen und dieses Verschieben selber wird zu seinem eigentlichen Lebensinhalt, er wird zu einem „überflüssigen Menschen“. Er verbringt seine Zeit wie ein Kranker in vorwiegend liegender Haltung im Bett. Würde er aus seinem Müßiggang Genuss ziehen, wäre er sicherlich ein angenehmer Gesprächspartner, aber das Phänomen Oblomow besteht darin, dass er aus seiner Lethargie nicht herauskommt, er an einer Depression leidet, bevor die Psychoanalyse und dieses Krankheitsbild erfunden wurden. Doch Gontscharow gibt sich große Mühe, Oblomow nicht als einen kranken Menschen darzustellen. Das Liegen sei für Oblomow weder eine Notwendigkeit noch eine Annehmlichkeit zur Unterstützung seiner Faulheit, sondern einfach sein Normalzustand.

Tatkraft absorbieren

Oblomow träumt davon, das väterliche Gut Oblomovka zu bewirtschaften, jedoch verschiebt er diese Aufgabe täglich. Der allmähliche Zerfall des Anwesens wird so zum Sinnbild für Oblomows Zustand. Zentralen Stellenwert nimmt für Oblomow der Mittagsschlaf ein, um ihn herum gruppiert er seinen Tagesablauf und sein Leben.

Eine Veränderung der gleichförmig aneinandergereihten Tage Oblomows scheint sich anzudeuten, als sein Freund, der Deutschrusse Andrej Iwanowitsch Stolz, ein Mann, der vor Tatendrang strotzt, ihn mit der jungen Olga bekannt macht, denn das Wunder geschieht: Oblomow verliebt sich in das hübsche Mädchen, doch auch diese Gefühlsregung vermag keine grundlegende Veränderung in Oblomow herbeizuführen. Er bleibt unfähig zu handeln. Die Tatkraft von Stolz wird durch Oblomows Trägheit absorbiert. Zwangsläufig scheitert die Beziehung zu Olga, Oblomow gibt sich der guten Küche seiner gutherzigen Haushälterin Agafja Matwejewna hin und versinkt endgültig in Lethargie und teilnahmsloser Völlerei.

Als Stolz, der die Verwaltung des Gutes übernommen und Olga geehelicht hat, davon erfährt, dass Oblomow seine einfältige Haushälterin geheiratet hat, gibt er ihn endgültig verloren. Die Tragik des Lebens Oblomows bringt er resignierend nach dessen Tod auf den scheinbar nihilistischen Punkt: „Er ist um nichts zugrunde gegangen.“ Er hat – um es mit Vico zu sagen – keine eigene Wahrheit erschaffen.

Psychoanalyse und Gastrosophie

Zieht man die Psychoanalyse zu Rate, dann besteht der Kern des Lebens darin, sein Genießen zu organisieren. Das Begehren eines jeden Menschen ist es zu genießen – wie auch immer das Genießen verstanden wird. In diesem Sinne ist Oblomow der Gegenpol zur Psychoanalyse, denn er ist in einem fast absoluten Maße nicht in der Lage sein Leben zu genießen, er hat auch keinen Begriff des Begehrens. Dass er von vielen Verpflichtungen schlichtweg überfordert ist, ist hierbei nicht einmal ausschlaggebend. Sein Scheitern liegt vielmehr darin begründet, dass er keinerlei Genuss aus seinem Müßiggang ziehen kann und nicht einmal in der Lage ist, die gute Küche seiner Haushälterin zu genießen. Gerade an diesem Punkt des Lebens im Schlaraffenland – denn Oblomow fliegen die gebratenen Hühner buchstäblich in den Mund – offenbart sich die Unfähigkeit Oblomows zu genießen und sinnliche Eindrücke zu würdigen. Denn er bleibt nicht des Genusses wegen bei seiner Haushälterin, sondern lediglich, um einer eigenen Handlung vorzubeugen.

Mit anderen Worten, die „Oblomowerei“ ist der Gegenentwurf zur Gastrosophie, weshalb es sich lohnt, dieses Buch in seiner gelungenen Neuübersetzung zu genießen.

Für Sie gelesen
Iwan Gontscharow: Oblomow. Roman. Carl Hanser Verlag München 2012, 840 Seiten gebunden, 34,90€
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